Kinder mit Behinderung:"Einsperren als Strafe darf es nicht geben"

Intensivtherapeutische Wohngruppe für Kinder

Ein Time-Out-Raum ist ein karges Zimmer ohne optische Reize. Aggressive Kinder und Jugendliche sollen dort gleichsam heruntergedimmt werden.

(Foto: Friso Gentsch/dpa)
  • Sozialministerin Emilia Müller hat ein Treffen mit zuständigen Aufsichtsbehörden einberufen, um über umstrittene Praktiken in heilpädagogischen Kinderheimen zu beraten.
  • Dokumente legen nahe, dass einige Einrichtungen Kinder als Strafe einsperren oder isolieren.
  • Zuvor hatte Müllers Ministerium in einer Antwort im Landtag bestritten, dass es solche Praktiken gebe.

Von Dietrich Mittler

Das Wegsperren, Ruhigstellen, Fixieren und Isolieren von behinderten Kindern und Jugendlichen in bayerischen Heimen soll nun eingehend auf rechtliche Verstöße hin untersucht werden. Am Donnerstag trafen Vertreter der zuständigen Aufsichtsbehörden aus ganz Bayern im Sozialministerium ein. Sozialministerin Emilia Müller hatte sie einbestellt, um sich einen Überblick über die Problemlage zu verschaffen.

Der Vorstoß komme viel zu spät, kritisieren die Oppositionsparteien. "Erneut versagt im Sozialministerium die Aufsicht gerade dann, wenn es um die Unterbringung von hilflosen Menschen geht", sagt die SPD-Abgeordnete Alexandra Hiersemann.

Der scharfe Ton der SPD-Politikerin erklärt sich daraus, dass ihr das Sozialministerium auf eine Landtagsanfrage hin erst vor Kurzem eine aus heutiger Sicht nicht mehr haltbare Auskunft erteilt hat. Müller hatte am Mittwoch einräumen müssen, dass behinderte Kinder in sogenannten Auszeit-Zimmern (Fachbegriff "Time-Out-Räume") offenbar doch eingeschlossen werden.

Zuvor noch hatte ihr Ministerium mitgeteilt: "Kinder und Jugendliche mit Behinderung werden nicht in Zimmern oder Time-Out-Räumen eingesperrt." Nur wenige Zeilen weiter heißt es: "Die Zimmer werden dabei nicht abgesperrt." Das stelle sich nun als "glatt unzutreffend" heraus, empört sich Hiersemann.

Bei Time-Out-Räumen handelt es sich um äußerst karg, wenn überhaupt eingerichtete Zimmer, in denen hyperaktive oder aggressive Kinder und Jugendliche gezielt durch Ausgrenzung sowie durch die Reduzierung äußerer Reize mehr oder weniger heruntergedimmt werden sollen.

Was aus diesen Zimmern bekannt ist

Offenbar, so legen es Dokumente nahe, die der SZ vorliegen, werden Kinder und Jugendliche zum Teil aber auch aus nichtigen Anlässen solchen Maßnahmen unterworfen - in einem Fall wohl deshalb, weil der betroffene Bub "abends nicht im Bett speisen" wollte. Hier habe einem Augenzeugen zufolge weder eine Eigen- noch eine Fremdgefährdung vorgelegen.

Sozialministerin Müller lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie Härten wie diese nicht zulassen will. "Es darf in unseren Einrichtungen für behinderte Kinder kein Einsperren als Strafaktion geben", sagt sie. Hiersemann hält Müllers nun demonstrierte Entschlossenheit für vorgeschoben. "Das Ministerium ist offenbar völlig ahnungslos bei der Frage, was in diesen Einrichtungen geschieht", sagt sie und fordert mehr unangemeldete Kontrollen in Behindertenheimen.

Bayerns Grüne dringen ebenfalls auf Konsequenzen: "Wir brauchen ein Register für freiheitsentziehende Maßnahmen und auch für Fälle, in denen Menschen durch Medikamente ruhiggestellt werden", sagt die Sozialpolitikerin Kerstin Celina.

Auch dürften Eltern auf keinen Fall unter Druck gesetzt werden, vor der Aufnahme ihres behinderten Kindes in ein Heim eine pauschale Zustimmung zu Zwangsbehandlungen abgeben zu müssen. Dem Recherche-Team des Bayerischen Rundfunks (BR) ist eine Mutter bekannt, der das passiert ist. Unhaltbar aus Sicht der Grünen. Einrichtungsträger und Fachverbände müssten im Verbund mit der Politik Konzepte entwickeln, um solchen Missständen den Boden zu entziehen.

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