Tiermedizin:Wenn für das Haustier nichts zu schade ist

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Des Menschen bester Freund: Christine von Kreß lässt Patientin Wilma auf dem Unterwasserlaufband üben. Für Haustiere werden laut einer Studie viele Milliarden Euro im Jahr ausgegeben, auch im Medizinbereich. (Foto: Stefan Puchner)

Früher gab es für kranke Hunde meistens eine letzte, tödliche Spritze. Heute werden sie nach einem Bandscheibenvorfall von der Physiotherapeutin wieder mobilisiert. So wie in einer Augsburger Praxis.

Von Johann Osel, Augsburg

Die Patientin fletscht, grunzt, hechelt, schnauft und knurrt, aber sie scheint die Behandlung zu genießen. Schließlich handelt es sich, so sagt es die Therapeutin, um "eine halbe Stunde pure Aufmerksamkeit", die der Vierjährigen zuteil wird. Auf einem Tuch liegt Wilma, französische Bulldogge mit typisch flacher Schnauze. Für das, was ihre Krankenakte berichtet, wirkt sie fidel: Im Herbst hatte sie einen Bandscheibenvorfall, wurde operiert, konnte kaum laufen, ein traktierter Nerv führte dazu, dass sie Kot und Urin nicht mehr unter Kontrolle hatte.

Daher führt Tierphysiotherapeutin Christine von Kreß ein Gerät über den Körper, es entsendet Schwingungen und soll Nerven anregen und die Muskulatur lockern. Derweil ein Plausch mit den Besitzern, einem jungen Paar - "Wie läuft sie so?". Das Herrchen meldet: "Mal so, mal so. Abgenommen hat sie." Wilma niest. Gleich geht's weiter mit dem Pensum, hier in der Augsburger Praxis für Tierphysiotherapie.

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Für das Haustier ist nichts zu schade, das lässt sich wissenschaftlich belegen. Einen jährlichen Umsatz von gut neun Milliarden Euro in Deutschland hat die Studie "Wirtschaftsfaktor Heimtierhaltung" der Uni Göttingen ermittelt. Sie stammt von 2014, bleibt aber maßgeblich und soll wegen manifester Trends in der Gesellschaft dieses Jahr aktualisiert erscheinen. In die Summe floss alles ein: Futter, Zubehör, Bestattungen, Zuchtkosten, Hundeschulen, Hundetagesstätten ("Hutas") für berufstätige Herrchen, Hundefriseure, Hundefaschingskostüme. Und Tiergesundheit, neben Ärzten zählen dazu Heilpraktiker und Physiotherapeuten, für die 110 Millionen Euro veranschlagt wurden.

Ein "junger, aber wachsender Trend", sagte die Ökonomin Renate Ohr in einem Interview. "Wobei es viele Neugründungen gibt, Kleinstunternehmen, die nicht unbedingt furchtbar viel damit verdienen." Eine Internetsuche zeigt in den größeren Städten Bayerns zahlreiche Brancheneinträge, doch etwa auch in Lichtenfels, Cham oder Oberammergau gibt es Praxen. Solide Zahlen fehlen, weil es kein geschützter Beruf ist.

Die Physiotherapie könne alles machen, was beim Menschen auch gemacht wird

Christine von Kreß bedauert das. "Es wachsen immer mehr Angebote aus dem Boden. Auch schlechte." Die 60-Jährige erzählt von Mädchen, die Hunde streicheln, ohne Anatomiekenntnisse; oder von Hausfrauen, die das als nettes Hobby sehen und höchstens einen Fernkurs machen. Ihr war bei ihrer zweijährigen Ausbildung an einer Akademie wichtig, dass sie von Tierärzten geleitet wird. Von Kreß ist mit Hunden und Pferden aufgewachsen, war Reiterin, Pferdewirtin, Tierheilpraktikerin, seit etwa zehn Jahren ist sie Physiotherapeutin mit Praxis, erst in Niederbayern, nun in Augsburg. Geduld und auf Tiere geschulte Finger brauche man neben Fachwissen. Es sei ein "Traumberuf", bei dem man sich über große und kleine Erfolge freuen könne: wenn Schmerzen nachlassen, Tiere mobiler werden, ihre Lebensqualität steigt. Rührende Dankesbriefe im Wartezimmer zeugen davon. Pferde behandelt sie ab und zu noch, das ist aufwendig - die kommen nicht in die Innenstadt.

Dort steht Wilma auf dem Unterwasserlaufband, zum Muskelaufbau. "Kein Gummiball, Wilma", mahnt der Besitzer, als sie sich anfangs mehr dem roten Notfallknopf widmet. Dann läuft sie, mitsamt ihrer bunten Windel - wegen akuter Blasenentzündung, da soll nichts ins Wasser gehen. Elf Minuten schafft sie, passabel angesichts der Vorgeschichte. Es begann damit, dass sie nicht mehr aufs Sofa sprang und ein Bein nachzog. Als ein MRT den Bandscheibenschaden anzeigte, "war für uns klar: OP, auf jeden Fall".

Dass ein Tier nicht mehr agil ist, sei üblich bei orthopädischen Problemen oder Alterserscheinungen, sagt von Kreß. Der Tierarzt (nebenan ist einer) könne nur Schmerzmittel verschreiben oder operieren. Die Physiotherapie könne alles machen, was beim Menschen auch gemacht wird. Wenn früher Hunde nicht mehr laufen konnten, seien sie eingeschläfert oder auf dem Land sogar erschossen worden. "Heute ist der Stellenwert des Tieres ein vollwertiges Familienmitglied. Es gibt nichts, was es nicht gibt", weiß von Kreß. Sie kann das verstehen; auch wenn sie über Auswüchse wie lackierte Krallen schmunzelt. Hundeversicherungen hält sie für sinnvoll. "Ein blöder Sprung, Kreuzbandriss, 1500 bis 2000 Euro für die OP. Das hat man nicht mal eben in der Sparbüchse."

Wilma ist krankenversichert, das ist ein Glück. Aber auch sonst wären ihre Besitzer um keine Investition verlegen: "Wir haben sie von Klein auf, Wilma ist uns ans Herz gewachsen. Wie ein Kind." Ein Kind, das nicht leiden soll. Jüngst hatte sie auch eine Operation beim Hundezahnarzt.

© SZ vom 18.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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