Augsburg:Kriminelles Netzwerk wegen Pflegebetrug in Millionen-Höhe vor Gericht

Lesezeit: 3 min

Hinter einer Plexiglasscheibe bespricht sich im Schwurgerichtssaal ein Angeklagter (l) mit seinem Verteidiger. (Foto: dpa)

Die fünf Angeklagten sollen jahrelang bei Kassen und Sozialhilfeträgern nicht erbrachte Leistungen abgerechnet haben. Nun beginnt der Mammutprozess.

Von Florian Fuchs, Augsburg

Seit eineinhalb Jahren sitzen die beiden Hauptverdächtigen in Untersuchungshaft, nun begegnen sie sich auf der Anklagebank. Richard R. sitzt rechts, Julia L. links, aber so richtig zu sagen haben sie sich offenbar nichts. L. würdigt ihren Ehemann mit keinem Blick, dabei gäbe es doch einiges zu besprechen. Alleine die Verlesung der Anklage in diesem Mammutprozess über umfangreichen Pflegebetrug gegen die beiden Hauptangeklagten und drei weitere Beschuldigte dauert eineinhalb Stunden.

Zwölf Rechtsanwälte, fünf Angeklagte und zwei Staatsanwältinnen sind im Landgericht Augsburg aufmarschiert. Es ist ein kriminelles Netzwerk, das Ermittler im Oktober 2019 aufgedeckt haben. Mit der Verhandlung in Augsburg startet der erste von zahlreichen Prozessen in diesem Ermittlungskomplex, bei dem laut Strafverfolgern Kranken- und Pflegekassen sowie Sozialhilfeträger in Bayern systematisch um viele Millionen Euro betrogen wurden.

Newsletter abonnieren
:Mei Bayern-Newsletter

Alles Wichtige zur Landespolitik und Geschichten aus dem Freistaat - direkt in Ihrem Postfach. Kostenlos anmelden.

Mit 600 Polizisten und 33 Staatsanwälten hatten die Ermittler 2019 in Augsburg und München rund 200 Pflegedienste sowie Arztpraxen und Wohnungen von Beschuldigten durchsucht - auch von Patienten, die am Betrug beteiligt gewesen sein sollen. Es war ein gigantischer Aufwand, aber auch ein "großer Schlag gegen die organisierte Kriminalität im Gesundheitswesen", wie der Chef der Staatsanwaltschaft München I, Hans Kornprobst damals sagte.

Das Gesundheitswesen sei in Teilen ein Schlaraffenland für Kriminelle, hieß es vonseiten der Ermittler. Kranken- und Pflegekassen gehen ohnehin davon aus, dass bei ihnen durch organisierte Kriminalität in der Pflege jährlich ein Millionenschaden entsteht. Der Nachweis ist allerdings schwierig, auch weil es bei den Fahndern an Personal fehlt für solch arbeitsintensive Ermittlungen. Die Strafverfolgungsbehörden haben deshalb aufgerüstet - der Prozess in Augsburg ist nun ein erstes Ergebnis davon.

Bei einem Angeklagten fanden die Ermittler etwa sieben Millionen Euro Bargeld

So wird den Angeklagten bandenmäßiger Betrug vorgeworfen, einmal sollen sie bei einer Überprüfung durch den medizinischen Dienst der Kassen eine Patientin sogar mit einem Beruhigungsmittel ruhiggestellt haben, damit der Betrug nicht auffliegt: Gefährliche Körperverletzung ist also auch einer der Anklagepunkte. Im Wesentlichen aber geht es darum, dass systematisch über viele Jahre hinweg Leistungen abgerechnet wurden, die gar nicht oder nur teilweise erbracht wurden.

In einem anderen Verfahren sitzt ein weiterer Beschuldigter in Untersuchungshaft, bei dem die Ermittler zu Hause und in Schließfächern etwa sieben Millionen Euro Bargeld beschlagnahmten. Dazu kommen Ermittlungsverfahren gegen rund 100 weitere Beschuldigte, insbesondere gegen angebliche Patienten, für die die Pflegeleistungen gezahlt wurden und die von den Pflegediensten Geld oder andere Leistungen erhielten, um bei dem Betrug mitzumachen.

Auch bei dem Augsburger Pflegedienst, dessen führende Köpfe sich nun vor dem Landgericht verantworten müssen, sind Patienten mit Geld und Sachleistungen geködert worden: Einem der Patienten lieferten Mitarbeiter des Pflegedienstes sogar jeden Morgen Semmeln und eine Zeitung. Andere belohnten sie etwa mit Fahrdiensten, was eigentlich nicht zum Aufgabenspektrum von Pflegediensten gehört. Dabei hätte die Hauptangeklagte gar keinen Pflegedienst mehr leiten dürfen, was sie formal auch nicht tat: Sie war früher bereits Inhaberin eines Pflegedienstes gewesen, wurde aber wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelts verurteilt. Also fungierten vor den Kassen, die nicht mehr mit der Frau zusammenarbeiten wollten, Strohmänner als Geschäftsführer - einer lebte die meiste Zeit in Spanien, während er auf dem Papier den Betrieb in Augsburg führte. Geleitet hat den Pflegedienst im untersuchten Zeitraum von 2012 bis 2019 nach Erkenntnissen der Ermittler aber tatsächlich die Angeklagte.

Wenn Mitarbeiter des Pflegedienstes nicht mitspielten, wurden Nachweise gefälscht

Demnach war die Frau auch verantwortlich für die Einteilung der Touren der Pflegekräfte, die jedoch ebenfalls nur auf dem Papier bestanden. Mündlich sollen die Mitarbeiter dann instruiert worden sein, zu welchen Patienten sie wirklich fahren sollten und welche Leistungen sie tatsächlich erbringen - deutlich weniger als den Kassen angezeigt.

Dabei ging es etwa um das Wechseln von Stützstrümpfen, ums Waschen von Patienten oder auch um Medikamentengaben. Teilweise rechnete der Pflegedienst auch Leistungen von Angehörigen für ihre Verwandten ab, obwohl dies explizit nicht erlaubt ist. Um etwa 3,3 Millionen Euro sollen die Angeklagten die Pflegedienste damit über die Jahre hinweg betrogen haben. Betroffen sind unter anderem namhafte Kassen wie die AOK Bayern oder die Barmer.

Wenn sich Mitarbeiter des Pflegedienstes weigerten, falsche Leistungsnachweise auszufüllen, sollen die Angeklagten die Schriftstücke gefälscht haben. Eine hohe kriminelle Energie hat die Staatsanwaltschaft der Hauptangeklagten in einer Vorbesprechung der Prozessbeteiligten vor einigen Wochen attestiert, verkündete der Richter zum Abschluss des ersten Verhandlungstags. Unter anderem, weil sie Prüfmechanismen mit hohem Aufwand außer Kraft gesetzt hat und ja bereits vor Gründung dieses Pflegedienstes im Visier der Strafverfolgungsbehörden war.

Demnach sieht die Staatsanwaltschaft für die 43-Jährige eine acht- bis neunjährige Haftstrafe als gerechtfertigt an. Ihr Ehemann soll - geht es nach den Anklägern - sieben bis acht Jahre ins Gefängnis. Er hatte nebenbei einen Fahrdienst gegründet, über den er wiederum vom Pflegedienst über Jahre hinweg Zahlungen in Höhe von knapp 550 000 Euro bezog.

Ob der Strafrahmen tatsächlich so hoch ausfallen wird, wird der Prozess zeigen, der zunächst bis in den Herbst hinein auf mehr als 60 Verhandlungstage angesetzt ist. Die Anwälte der fünf Angeklagten kündigten an, dass sich ihre Mandanten im Laufe des Verfahrens zu den Vorwürfen äußern werden.

© SZ vom 15.04.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusRente
:Wird das Geld reichen?

Frauen sind im Alter ärmer als Männer. Warum ist das so? Und wie lässt sich das verhindern? Unsere Autorin wagt einen Blick in die Zukunft - auf der Suche nach ihrer eigenen Rente.

Von Pia Ratzesberger

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: