Asylpolitik:Jung, allein - und sehr viele

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Fremdes Land, fremde Sprache: Kinder und Jugendliche, die ohne Begleitung nach Bayern geflüchtet sind, benötigen besondere Hilfe. (Foto: Robert Haas)

Die Zahl unbegleiteter minderjähriger Asylbewerber steigt enorm. Bayerische Landräte schlagen Alarm, dass sie die Betreuung nach den gesetzlichen Vorgaben nicht mehr erfüllen können, und fordern eine Absenkung der Standards. Der Flüchtlingsrat hält das für eine Schweinerei

Von Dietrich Mittler, München

Sandra Wagner-Putz ist oft mit als erste am Ort, wenn die Bundespolizei in und um Passau minderjährige Asylbewerber aufgreift, die ohne ihre Eltern oder andere Begleiter in Bayern eintreffen. So ist die Sachbearbeiterin des Passauer Jugendamts auch an jenem Tag im Dienst, als die Zahl der aufgegriffenen Asylbewerber alles bisherige übertriff. Am Ende sind es mehr als 200, unter ihnen 50 Kinder und Jugendliche. "Mir ist ein Zwölfjähriger noch stark im Gedächtnis", sagt Wagner-Putz, "der war, nachdem er Afghanistan verlassen hat, ganz alleine unterwegs." Viel reden konnte sie mit dem Buben nicht, denn anfangs stehen die Formalitäten im Vordergrund, Name, Alter, Herkunftsland. Dennoch hatte die 39-Jährige für den Jungen eine gute Nachricht. "Er war erleichtert, dass er in ein Camp für Kinder und Jugendliche kommt", sagt sie.

Inzwischen sei der Bub in amtlicher Obhut - kein Einzelfall. Dazu sind die Jugendämter verpflichtet. Entsprechende Vorgaben finden sich sowohl in der von Deutschland voll anerkannten UN-Kinderrechtskonvention als auch in EU-Richtlinien und vor allem in der deutschen Sozialgesetzgebung. Demnach gelten bei unbegleiteten Minderjährigen die ortsüblichen Standards der Jugendhilfe. "Ausländische Minderjährige dürfen bei Aufgaben der Jugendhilfe gegenüber einheimischen Jugendlichen nicht diskriminiert werden", betont der Bundesverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge.

Bayerns Landräten geht das zu weit. Sie sprechen von einem "Overkill" und fordern eine Sonderregelung für die unbegleiteten Minderjährigen, selbst wenn dies gegen die UN-Konvention verstoße. Notfalls müsse man seinen Standpunkt auch vor Gericht durchfechten. "Ich sehe keine Alternative, das ist das Problem", sagt Johann Keller; er ist geschäftsführendes Präsidialmitglied des Bayerischen Landkreistags. Keller steht mit dieser Meinung nicht allein. Die Standards der Betreuungsangebote, die die Jugendhilfe nach Recht und Gesetz bieten muss, sind aus Sicht etlicher Landräte viel zu hoch, was die jungen Flüchtlinge betrifft. "Die benötigten Deutschkurse und einen Ausbildungsplatz, aber keine sozialpädagogische Begleitung und schon gar nicht das volle Programm", sagt der Fürstenfeldbrucker Landrat Thomas Karmasin. Und Keller sagt: "Nicht jeder, der hier ankommt, muss zwangsläufig traumatisiert sein." Angesichts der vielen Flüchtlinge seien die Standards bei unbegleiteten Minderjährigen nicht zu halten. Tatsächlich sind die Zahlen in die Höhe geschnellt: Lag die Zahl der nach Bayern eingereisten unbegleiteten minderjährigen Asylbewerber 2012 bei 545 und 2013 bei 574 Kindern und Jugendlichen, so war 2014 "ein enormer Anstieg der Zugangszahlen um das Sechsfache auf rund 3400 unbegleitete Minderjährige zu verzeichnen", teilt das Sozialministerium mit. "Für das Jahr 2015 rechnen wir mit weit über 5000 jungen Menschen."

"Die Zugangszahl ist so hoch, dass wir die Betreuung nach Jugendhilfestandards nicht mehr schaffen. Wir haben extreme Schwierigkeiten, diese Anforderungen zu erfüllen, weil der Markt mit Sozialpädagogen leergefegt ist", sagt Keller. Unterstützung bekommen die Landräte derzeit vom niederbayerischen Regierungspräsidenten Heinz Grunwald, der sagt, es müsse im Einzelfall überprüft werden, "ob niedrig schwelligere Betreuungsformen in Betracht kommen". Doch offenbar schenkt nicht nur Grunwald den Landräten Gehör. "Ich sitze im Lenkungsstab Asyl", sagt Landrat Karmasin, "und daher weiß ich, dass die im Sozialministerium an der Absenkung der Standards arbeiten. Sozusagen an einer Neudefinition der Standards."

Das Sozialministerium - der Brisanz der Angelegenheit bewusst - wiegelt ab: "Anstelle einer Diskussion über die Absenkung von Standards der Jugendhilfe müssen für die Unterbringung von unbegleiteten Minderjährigen vor allem die schon jetzt bestehenden gesetzlichen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um für die jungen Menschen zielgerichtet Unterstützung zu leisten." Da viele unbegleitete Minderjährige bereits sehr selbständig seien, kämen hier oft einfachere Wohnformen mit ambulanter Betreuung in Betracht. "Dabei denken wir auch daran, beispielsweise auf Jugendherbergen zurückzugreifen", teilte ein Ministeriumssprecher mit.

Dass Landrat Karmasin mit seiner Aussage wohl den Kern trifft, geht auch aus einem Hinweis hervor, den nun Sozialministerin Emilia Müller (CSU) den Städten gibt, die unbegleitete Minderjährige aufnehmen: Sie müssten "viel stärker als bisher das breite Spektrum der Jugendhilfeangebote entsprechend der Hilfsbedürftigkeit nutzen". "Das geschieht doch längst", sagt indes der Passauer Oberbürgermeister Jürgen Dupper (SPD), in dessen Stadt, neben Rosenheim, die meisten unbegleiteten Minderjährigen nach ihrem Grenzübertritt eintreffen. Die Diskussion über Jugendhilfe-Standards sei "nicht zielführend", sagt er. Vielmehr müsse der Freistaat die Kommunen stärker dabei unterstützen, die Unbegleiteten ordentlich zu betreuen. Emilia Müller hat das zwar zugesagt, doch den OB plagen Zweifel, ob das im ausreichenden Maße geschehen wird.

Die härteste Kritik an der geplanten Aufweichung der Jugendhilfe-Standards kommt indes von Alexander Thal, einem der Sprecher des Bayerischen Flüchtlingsrats. "Die Forderung der Landräte ist eine Schweinerei", sagt er. Sozialpädagogische Maßnahmen seien "maßgeschneiderte Angebote für belastete Kinder und Jugendliche, die ohne ihre Eltern in Deutschland angekommen sind und die das Land, seine Gesetze und Regeln nicht kennen".

© SZ vom 27.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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