Geduld, sagt Roland Hofmann und lächelt, sei nicht nur eine Tugend. "Sie gehört bei einem Lokführer zum Berufsbild einfach dazu." Er steht mit seiner Lok auf einem Überholgleis am kleinen Haltepunkt Petershausen, etwa 50 Kilometer vor Ingolstadt. Eben ist ein ICE auf dem Gleis neben ihm vorbeigezischt, nun muss er noch einen Regionalzug passieren lassen.
Nach gut 20 Minuten geht es weiter. Das Signal vor ihm springt auf Grün, Hofmann dreht am Temporegler seiner Lok der Baureihe 103. Langsam setzt sich der Zug in Bewegung, ganz langsam. Und sehr viel schneller wird er auch nicht. Mehr als 60 Stundenkilometer darf Hofmann heute nicht fahren. Die Ladung, die hinten dranhängt an seiner 103, lässt höhere Geschwindigkeiten nicht zu. Wäre man ein Pendler in einem Personenzug, sagen wir, auf dem Weg von München nach Ingolstadt - spätestens jetzt wäre einem der Geduldsfaden endgültig gerissen.
Hofmann aber zieht keine Fahrgäste durchs Land, auch keinen Güterzug mit Containern oder Kesselwaggons. Er transportiert vielmehr eine andere Lokomotive vom Werk in München-Allach in den Verladehafen nach Rostock. Zwei Tage sind er und Zugbegleiter Dominik Recker unterwegs, dann wird ein Kran die Lok auf ein Schiff hieven, das sie weiter nach Finnland schippert.
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Andere Länder, andere Spurweiten
Die Lok ist die erste von 80 Maschinen vom Typ Vectron, die die finnische Staatsbahn bei Siemens gekauft hat, für insgesamt mehr als 300 Millionen Euro. Das Problem ist nur: Die finnische Bahn fährt auf Breitspur; die Spurweite dort beträgt 1520 Millimeter. In Mitteleuropa dagegen liegen Schienen mit 1435 Millimeter Spurweite, Fachleute nennen diese die "Normalspur". Allein schon wegen der unterschiedlichen Spurweiten können die 80 Finnland-Loks nicht aus eigener Kraft nach Rostock rollen. Deshalb kommen Hofmann und Recker ins Spiel.
Sie arbeiten für die Münchner Firma Railadventure, die sich auf Überführungs- und Versuchsfahrten von Schienenfahrzeugen spezialisiert hat. Insbesondere für den Transport von Breitspur-Fahrzeugen auf Normalspur-Gleisen hat Railadventure Hilfsfahrgestelle entwickelt, "Loko-Buggys" genannt. Ohne diese hätte Siemens die Lok in mehrere Teile zerlegen und in Finnland wieder zusammenbauen müssen. So hebt ein Kran im Werk die 90 Tonnen schwere Vectron auf die Buggys, Hofmann und Recker koppeln vorne und hinten jeweils einen Bremswagen an und spannen die Zugmaschine davor - fertig.
Eine höhere Geschwindigkeit als Tempo 60 ist für den kurzen Transportzug vor allem deshalb nicht drin, weil die gelb leuchtenden Loko-Buggys auf sehr kleinen Rädern laufen. Alle 30 bis 50 Kilometer müssen Hofmann und Recker deshalb einen Temperatur-Check vornehmen und prüfen, ob die Lager in den kleinen Rädern heiß laufen. Hofmann meldet sich dann über Streckenfunk beim Fahrdienstleiter der Deutschen Bahn und fragt, ob der ihn in irgendeinem Bahnhof an der Strecke auf ein Überholgleis lenken kann. Steht der Zug dort, steigt Recker aus und prüft die Temperaturfühler an den Buggys. Die würden sofort anzeigen, wenn etwas an den Rädern nicht stimmt.
Vor gut fünf Jahren hatte Railadventure-Chef Alex Dworaczek, ein gelernter Lokführer und lange als Projektmanager in der Bahnindustrie tätig, die Idee, den Zugherstellern und Verkehrsunternehmen die aufwendige Überführungsfahrerei abzunehmen. Etwas mehr als ein Dutzend Leute beschäftigt er mittlerweile, darunter viele Lokführer wie Roland Hofmann, die mehrere Sprachen beherrschen und diverse Lizenzen besitzen, die es ihnen erlauben, mehrere Loktypen und Triebwagen zu steuern. Und die über die nötige Streckenkunde verfügen, um die Haupttransportwege befahren zu dürfen. Auf Nebenstrecken oder Trassen im Ausland steigen hin und wieder Lotsen zu den Lokführern in den Führerstand. Wird eine Lok zum Beispiel zu Eisenbahnfirmen auf den Balkan überführt, übernachten Lokführer und Zugbegleiter auch mal im Bremswagen.
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Jede Fahrt muss detailliert geplant werden
Das alles zeigt: Das Überführen von Zügen ist keine triviale Angelegenheit. Nahezu jede Fahrt, sagt Dworaczek, muss detailliert geplant werden. Gutachter prüfen, ob die Strecken für die Fahrzeuge ausgelegt sind; nicht dass eine zu breite Lok an einer Bahnsteigkante hängen bleibt. Hofmann zum Beispiel kann mit der finnischen Vectron im Schlepptau den Erlanger Bahnhof nicht passieren, weil dort eine Baustelle zu viel Raum einnimmt. Die Disponenten haben deshalb einen 150 Kilometer langen Umweg über Schweinfurt geplant.
Zuvor mussten Genehmigungen eingeholt, bei Transporten ins Ausland Zollformalitäten erledigt werden. Mittlerweile, sagen Manager aus der Bahnbranche, sei das alles so komplex, dass sie durchaus froh seien, wenn Spezialisten sich der Sache annähmen. Macht der Transport über Nacht irgendwo Pause, müssen mitunter Wachen postiert werden, damit Graffitisprayer sich nicht sofort auf den Zug stürzen. Auf "diese Jungs", sagt Dworaczek und meint die Spraydosen-Kids, hätten fabrikneue Loks eine ähnliche Anziehungskraft wie elektrisches Licht nachts auf Insekten.
Aber nicht jedes Transportgut müssen die Fachleute auf Loko-Buggys hieven. Fahrzeuge mit Normalspur zum Beispiel hängen die Lokführer einfach zwischen Bremswagen und ziehen sie zu ihrem Bestimmungsort - die Münchner U-Bahnen oder neue Stadtbahnen für Karlsruhe kamen so an ihr Ziel. Das Problem ist nur: Eine U- oder Straßenbahn lässt sich nicht so einfach an einen Bahnwaggon kuppeln. Und auch die Eisenbahnen verwenden in Finnland zum Beispiel andere Kupplungen als die in Deutschland und Österreich. Railadventure hat deshalb Adapter entwickelt und 15 verschiedene, bis zu 360 Kilogramm schwere Kupplungsköpfe auf Lager, die Lokführer wie Hofmann vor einer Fahrt an die Adapter montieren müssen. Aus der Sicht des Railadventure-Chefs aber lohnt sich der ganze Aufwand: "Jede Fahrt auf der Schiene vermeidet einen Schwertransport auf der Straße."