Bytes statt Benzin:Auto tankt Internet

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Bei Rolls-Royce können Kunden geheime Codes in ihren Dachhimmel stanzen lassen: Eine von vielen (digitalen) Spielereien, die den Fahrzeug-Innenraum erobern. (Foto: BMW Group)

Die nächste Generation von Elektroautos startet mit Supercomputern und Panorama-Bildschirmen. Das ist erst der Anfang einer radikalen digitalen Transformation.

Von Joachim Becker

Der Weltraum, unendliche Weiten. Wir schreiben nicht das Jahr 2200, sondern 2021. Statt der Enterprise geht ein neues Elektro-Raumschiff von Daimler auf die Reise. Das hat den Vorteil, dass die "Brücke" nicht wie ein Kreuzfahrtschiff aus den Sechzigerjahren aussieht. Statt kleiner pixeliger Displays gibt es eine Mega-Mattscheibe von einer Seite des Innenraums zur anderen. Hyperscreen nennen die Stuttgarter ihr Breitwand-Kino: Mit Hochleistungs-Chips und hausgemachter Software soll es neue Universen erschließen. "Electric first and digital first - beides verbinden wir im neuen Mercedes EQS", kündigte Daimler-Kapitän Ola Källenius auf der Consumer Electronics Show (CES) an. Die Frage ist nur, ob der Sternenkreuzer wirklich in neue, bisher unentdeckte Galaxien aufbricht. Gut möglich, dass es da draußen bereits intelligentes Leben gibt.

Tatsächlich hat die Odyssee in den Datenraum vor zehn Jahren begonnen: Künftig werde Audi Soft- und Hardware stets auf Augenhöhe mit der Handy- und Computerbranche anbieten, tönte Rupert Stadler auf der CES 2011. Navigation und Entertainment würden künftig auf einer Hardware-Plattform laufen, die mit dem schnellen "Tegra 2"-Chipsatz von Nvidia bestückt sei, so der damalige Markenchef. Außerdem werde man einen Großteil der Infotainment-Software selbst in die Hand nehmen. Stadlers Science-Fiction macht immerhin klar, dass die fernen Galaxien direkt vor der Haustür oder in der Hosentasche beginnen: dicht besiedelt von Handy-, Computer- und Mobilfunkunternehmen, die um ein Vielfaches größer und erfolgreicher sind als die Autohersteller.

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Audis erstes Virtual Cockpit von 2014 hatte 31 Zentimeter Bildschirmdiagonale - ein Mäusekino im Vergleich zum 141 Zentimeter breiten und gewölbten Bildschirmband von Mercedes. Der Hyperscreen ist nicht nur gut viermal so groß, sondern überstrahlt dank OLED-Technologie auch die Funzeln der Vorzeit mit exquisiter Farbbrillanz und hohen Kontrastwerten. Gut möglich, dass die hochauflösende Grafik als Meterware das nächste Top-Gadget wird. Schließlich hat Mercedes seit 2018 bereits mehr als 1,8 Millionen Autos mit dem Anzeige- und Bediensystem MBUX in allen Fahrzeugklassen verkauft - trotz gesalzener Aufpreise.

Sieht aus wie ein Ufo, ist aber der neue Mercedes-Hyperscreen mit turbinenartigen Lüftungsdüsen rechts und links außen. (Foto: Mercedes)

Entscheidender als die schiere Größe ist die Intelligenz im Autokino. Nvidia zufolge hat der Zentralrechner im Mercedes-Hyperscreen 1200-mal mehr Leistung als der Tegra 2 damals bei Audi. Die Tech-Industrie hat ihrerseits die rollenden Spielekonsolen im Visier - und Tesla ist ein Teil von ihr. "Die sehen in dem Auto ein Device, auf dem eine Software läuft. Das ist in der Autowelt eine Revolution. Die müssen wir in unserem Hause jetzt generieren", mahnte Markus Duesmann im vergangenen Sommer an: "Beim Thema Digitalisierung sind wir in der zweiten Reihe", stellte der damals neue Audi-Chef im Gespräch mit dem Handelsblatt klar.

Science-Fiction-Fantasien von gestern

Nicht nur Tesla, sondern auch chinesische Start-ups und selbst Quereinsteiger wie Sony oder Apple haben wenig Mühe, den traditionellen Autoherstellern Paroli zu bieten. In China hat der Internetkonzern Alibaba gerade das erste Modell seines Joint Ventures mit SAIC Motor vorgestellt; Byton bekommt mit Foxconn einen der wichtigsten Auftragsfertiger von Apple als Ankeraktionär. Die Autofabriken spielen dabei eine untergeordnete Rolle. Wichtiger sind die digitalen Zusatzdienste für das Smartphone auf Rädern: "Bislang war alle Intelligenz der Funktionen im Auto. Mit dem Wandel hin zu datengetriebenen Entwicklungen und den Back-End-Funktionen wandert das Gehirn quasi aus dem Auto heraus in die Cloud. Das verändert die ganze Industrie", bestätigt BMW-Entwicklungsvorstand Frank Weber.

Visionäre Sitzkiste: Auf der CES 2012 hatte Mercedes bereits ein großes virtuelles Glas-Cockpit gezeigt. Der Hyperscreen setzt nun viele Ideen in die Serie um. (Foto: Bernd Hanselmann/Daimler)

Angedacht war das rollende Endgerät im Internet der Dinge (IoT) schon lange: Bereits 2011 sollte die BMW Vision Connected Drive ein "vollständig integrierter Bestandteil der vernetzten Lebenswelt" sein. Mit dem Elektro-SUV BMW iX soll ab der zweiten Hälfte dieses Jahres die ultimative Umsetzung gelingen - natürlich mit Panorama-Bildschirm und neuer Elektronikarchitektur. Auch Mercedes wollte auf der CES 2012 mit Dice (engl.: Würfel oder "Dynamic & Intuitive Control Experience") das Fahrgefühl revolutionieren. "Wir haben die Karten im Auto, die Topografie und die Geschwindigkeit. Also kann man sich eine Art des Handyspiels 'Pokémon Go' ausdenken, das noch mehr mit der Umwelt zu tun hat", sah Daimler-Zukunftsforscher Alexander Mankowsky voraus.

"Unser Hyperscreen hat tatsächlich viele Ähnlichkeiten mit dem Dice von 2012", erläutert nun Vera Schmidt, Leiterin des Mercedes-Digitaldesigns: "Das Herzstück war schon damals eine große, kontextbasierte digitale Karte, auf der wir Inhalte angezeigt haben, mit denen man interagieren konnte. Und genau das passiert heute, wenn man sich beim Fahren über das Umfeld informieren will."

Angedacht war das digitale Auto schon lange

Grundlagen für die Vernetzungsshow hinter dem Lenkrad sind der Netzausbau und der nächste 5G-Funkstandard. Mit hohen Datenraten und kurzen Reaktionszeiten soll das Fahrzeug nahezu in Echtzeit auf maximale Rechenkapazitäten in der Cloud zugreifen. Selbst der Sprachassistent im Auto speist sich zum großen Teil aus der Datenwolke. Vor allem lernt er dort, den Fahrer besser zu verstehen und dessen Wünsche vorauszusagen. Denn der Datenstrom ins Auto ist keine Einbahnstraße. Dutzende Sensoren im Fahrzeug füttern die künstliche Intelligenz noch reichlicher als das Smartphone in der Hosentasche. Damit kann der Großrechner immer neue Funktionen "erfinden" und ins Auto funken.

Auf der CES 2020 hat Mercedes in der Vision AVTR auch die Gestenbedienung gezeigt. Im Alltag mit holprigen Straßen hat der Touch-Bildschirm aber Vorteile. (Foto: Daimler)

Der fest programmierte Teil der Software-Funktionen ist also nur noch die sicherheitskritische Basis (bei der Erstauslieferung). Alles andere lässt sich später updaten. Dafür muss die Autoindustrie vor allem sich selbst neu erfinden. "Wir werden die Baureihen künftig nicht mehr nach Länge, Größe und Breite strukturieren, sondern nach dem Stand der Bordnetze", so Markus Duesmann: "In Zukunft ist die Beschaffenheit des Bordnetzes wichtiger als die Beschaffenheit der Hardware, also des Automobils." Das Problem ist nur: Die meisten Start-ups müssen nichts umbauen, sie ticken bereits wie die Tech-Konzerne.

Halbleiter geben längst den Takt vor

Vor wenigen Tagen hat Nio mit dem ET7 gezeigt, was das heißt. Die schicke Limousine wurde nicht nur von früheren BMW-Designern gestaltet, sondern nutzt ab 2022 dieselben Nvidia-Plattformen für Infotainment und hoch automatisiertes Fahren wie Mercedes. Längst sind die meisten Autohersteller, ob alt oder jung, in den Armen des kalifornischen Chip-Kraken gelandet: Der liefert zum Teraflop-Supercomputer im Miniformat auch die passende Software-Basis für künstliche Intelligenz und die entsprechenden Simulationswerkzeuge für autonomes Fahren. Eigene Chips und Elektroniksysteme entwickeln, so wie Apple und Tesla? Davon sind traditionelle Autohersteller noch Lichtjahre entfernt. "Tesla hat es in 18 Monaten geschafft, einen eigenen Chip inklusive Software für den Autopiloten zu entwickeln, das ist mit Abstand Benchmark", lobt der frühere Audi-Entwicklungsvorstand Peter Mertens.

Sätze wie "Die Digitalisierung bestimmt das Auto und unsere Organisation", hört man heute an jeder Blechpresse. Doch Peter Mertens hat so seine Zweifel: "VW und andere arbeiten mit Hochdruck daran, die Kompetenzlücke zu schließen. Es ist aber nicht damit getan, 10 000 Software-Ingenieure in einer starren Organisation zusammenzuführen. Damit entsteht ganz sicher keine schnell arbeitende Elite-Truppe für Software." Audi hat das Projekt Artemis auch deshalb zur unabhängigen Tochtergesellschaft gemacht, um das Auto von der Software und nicht von der Hardware her zu entwerfen. Was noch keine Garantie ist, dass die alte Riege von Maschinenbauern mitzieht.

"Software-Entwicklung bei Uber, Amazon oder Google findet eher in Organisationen mit flacher Hierarchie, kleinen, autarken und global vernetzten Teams mit extrem kurzen Integrationszyklen statt: Rapid Prototyping statt Codieren von Lastenheften", erklärt Mertens. Deshalb laufe auch Artemis komplett außerhalb der regulären Organisation: "Der Knackpunkt ist die Übertragung des in Artemis Gelernten auf das große Ganze. Da scheitern solche Lerninseln dann in aller Regel." Das Gelernte müsse auf 12 000 Entwickler, 10 000 Produktionsplaner und 1000 Einkäufer übertragen werden, so Mertens: "Dazu braucht man eine ganz neue Firmenkultur, viel Geld und sicher auch Zeit." Zeit, die in der angeschlagenen Autoindustrie niemand mehr hat.

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