Fischfang:Poseidons Buchhalter

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Unter Wissenschaftlern ist ein Streit um die Folgen des globalen Fischfangs ausgebrochen: Wie misst man den Fischreichtum der Weltmeere?

Marlene Weiss

Eigentlich hatte Daniel Pauly schon seine Pensionierung im Blick. Aber seit im vergangenen November in der Zeitschrift Nature eine Arbeit erschien, die seine gesamten Überzeugungen in Frage stellte, ist der Ruhestand in weite Ferne gerückt.

Die Bestände der großen Räuber wie Lachs, Thunfisch und Rotbarsch sind möglicherweise schon so stark abgefischt, dass zunehmend kleinere Meerestiere wie Heringe oder Muscheln in den Ozeanen überhandnehmen. (Foto: Ed Melvin/Washington Sea Grant)

"Wie kann man so etwas erscheinen lassen", schimpft der Fischereiexperte von der University of British Columbia. "Jetzt muss ich mindestens zwei Jahre lang wütende Publikationen schreiben und zeigen, dass das falsch ist." Sein Ton lässt keine Zweifel aufkommen: Der Mann meint es ernst.

Auslöser für Paulys Ärger ist ein Beitrag von Wissenschaftlern um Trevor Branch von der University of Washington. Ihre Veröffentlichung zweifelte eine These an, die Pauly und seine Kollegen 1998 in der Zeitschrift Science aufgestellt hatten und die sich seither viele Fischereiexperten zu eigen gemacht haben.

Nach Ansicht von Pauly ist die globale Fischereiindustrie dabei, sich von oben nach unten durch die Nahrungskette der Fische zu arbeiten. Die Bestände der großen Räuber wie Lachs, Thunfisch und Rotbarsch sind demnach schon so stark abgefischt, dass zunehmend kleinere Meerestiere wie Heringe oder Muscheln in den Ozeanen überhandnehmen.

Eine solche Verschiebung würde die marinen Ökosysteme über kurz oder lang massiv aus dem Gleichgewicht bringen. Es könnte sein, dass größere Raubfische wegen ihrer längeren Lebenszyklen stärker unter Überfischung leiden: Rotbarsche etwa werden erst mit 13 Jahren geschlechtsreif und bis zu 75 Jahre alt. Entsprechend lange brauchen die Bestände, um Fangverluste auszugleichen. Und je weniger große Räuber noch zu fangen sind, umso mehr jagen Fischereiflotten auch kleine Fische.

Ein Maß für das Mengenverhältnis von Räubern und Beutefischen ist das "mittlere trophische Niveau", das auch die UN-Konvention für Biodiversität als Indikator verwendet. Es ist ein Maß, das sich aus den Positionen der Meeresbewohner in der Nahrungskette ergibt: Pflanzen oder Algen stehen auf der Stufe eins, Pflanzenfresser auf zwei, Raubtiere stehen auf den Niveaus drei und höher. Der Durchschnitt ist das mittlere trophische Niveau.

Relativ unumstritten ist, dass die weltweit gefangenen Fische seit Jahrzehnten im Durchschnitt immer kleiner und weiter unten in der Nahrungskette angesiedelt sind. Umstritten ist, ob diese aus Fischernetzen gewonnene Statistik die Realität im Ozean widerspiegelt. Nimmt der Anteil der Räuber tatsächlich ab? So sind die Statistiken ungenau, die Meldungen nicht immer wahrheitsgemäß, und Fischereiflotten jagen bekanntlich nicht unbedingt allen Fischarten gleichermaßen nach. Die Gruppe um Pauly lässt diese Argumente nicht gelten: Die modernen Offshore-Fangflotten nähmen mit, was im Meer zu finden sei, sagen sie, angesichts wirtschaftlichen Drucks könnten sie sich nichts anderes erlauben.

Das Nature-Paper vom vergangenen November hat die Debatte nun massiv verschärft. Die Forschergruppe um Trevor Branch hat 25 Ökosysteme mit verschiedenen Methoden untersucht und kaum einen Zusammenhang gefunden zwischen den gefangenen Fischen und denen, die sich tatsächlich noch im Meer tummeln. Sie plädieren daher für andere Zählmethoden, statt sich auf Fangstatistiken zu verlassen - deren Aussagekraft sei fast gleich null.

In den Augen Daniel Paulys bleibt die Gruppe um Branch jedoch die Antwort auf die Frage schuldig, wieso sich die Fänge und das mittlere trophische Niveau über die vergangenen Jahrzehnte so verändert haben. In Kambodscha oder Indien etwa gehen den Fischern gemäß Daten der Welternährungsbehörde FAO und dem indischen Fischereiinstitut seit den 1950er Jahren immer weniger große Räuber und immer mehr kleinere Fische ins Netz. In Indien gilt das sogar, wenn man kleinste Beutefische wie Sardinen, die dort erst seit den 1980er Jahren in großen Mengen gefangen werden, von der Zählung ausschließt.

Auf der Jahrestagung der amerikanischen Wissenschaftsgesellschaft AAAS in Washington traf Pauly vor wenigen Tagen auf Reg Watson von der University of Tasmania, einen der Autoren des Nature-Artikels vom November, und seinen Kollegen Villy Christensen von der University of British Columbia, ein überzeugter Anhänger der These von der Nahrungskettenverkürzung durch Fischfang.

Der wissenschaftliche Streit konnte bei den Treffen nicht beigelegt werden. Watson präsentierte jedoch Daten, die die Argumente seiner Gegner möglicherweise unterstützen: Seit den 1950er Jahren seien Fangflotten stetig in neue Gebiete vorgedrungen und hätten ihre Leistungsfähigkeit verzehnfacht, in Asien stieg sie sogar auf das 25-Fache. Die Fänge stiegen jedoch nicht in gleichem Maße, weil viele Arten an den Rand der Ausrottung gefischt wurden. "Es sieht so aus, als würden wir mehr fischen, um weniger Fische zu fangen", sagte Watson.

Für die Forscher um Pauly ist das erst recht besorgniserregend. Wenn die Flotten immer weiter draußen auf dem Meer und immer tiefer im Wasser auf die Jagd gehen, verlieren die großen Räuber ihre letzten Rückzugsgebiete. Noch lassen sie sich dort relativ leicht fangen, sodass noch verhältnismäßig viele Raubfische in den Fangzahlen auftauchen. Aber sobald auch diese Bestände abnehmen, könnte der Anteil der Räuber im Meer erst recht einbrechen - die Fangstatistiken zeichneten demnach womöglich sogar noch ein zu harmloses Bild.

Jetzt plant Pauly eine eigene Website (fishingdown.org), auf der Wissenschaftler ihre Daten zum Thema sammeln können. Wenn die Entwicklung der Fischbestände so weitergehe wie bisher, fürchtet Pauly, dass es eines Tages aus dem Meer nur noch Quallensuppe und Planktoneintopf zu essen gibt.

© SZ vom 24.02.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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