Erdbeben in Chile:Das Land, das auf dem Pulverfass sitzt

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Atacama-Wüste und Altiplano im Norden Chiles - in dieser eher ruhigen Region erwarten Geologen den nächsten "Big Bang" (Foto: Matthias Huber)

Meterhohe Flutwellen, Vulkanausbrüche und Erdbeben: Chile liegt direkt an einer 4000 Kilometer langen, hochaktiven Erdspalte - und ist gerade deshalb mit Rohstoffen gesegnet.

Von Angelika Jung-Hüttl

Zuerst war da ein tiefes Grollen. Plötzlich begann alles zu wanken, immer stärker von Sekunde zu Sekunde. "Ich kroch aus dem Bett, taumelte zur Wand, stemmte mich mit ausgebreiteten Armen dagegen und spreizte die Beine, um mich zu stabilisieren", erzählt Sebastián Wilson. In X-Stellung verharrte er so gut es ging, während der Boden unter seinen Füßen einen wilden Tanz vollführte und hinter ihm Bücher aus dem Regal stürzten. Er versuchte, seine Panik zu unterdrücken. "In meiner Wohnung im 14. Stock konnte ich nichts anderes machen - nicht wegrennen, nichts," sagt der junge Chilene. "Ich dachte nur - hoffentlich haben die Architekten und Ingenieure, die dieses Haus gebaut haben, einen guten Job gemacht."

Die Chance, in Chile auch bei solchen Erdbeben der Stärke 8 wie im Februar 2010 lebend aus einem Hochhaus zu entkommen, ist relativ groß. Chile hat neben Japan weltweit die strengsten Vorschriften zur Erdbebensicherheit von Bauwerken. Kein Wunder. Das lang gestreckte Land an der Pazifikküste Südamerikas ist eine der am meisten von Erdbeben gefährdeten Regionen der Erde. Dort wurde 1960 sogar das heftigste jemals gemessene Beben überhaupt registriert. Das Beben von Valdivia hatte eine Stärke von 9,5 - das ist deutlich mehr als das Beben vor Japan 2011 (Stärke 9,0), das die Katastrophe im Kernkraftwerk Fukushima auslöste, oder das Sumatra-Andamanen-Beben an Weihnachten 2004 (Stärke 9,1), in dessen Flutwelle 230 000 Menschen ums Leben kamen.

"Aktive Nahtstelle der Erde"

Der Herd des Bebens von Valdivia lag vor der Küste Zentralchiles, verursachte einen 1000 Kilometer langen Riss im Meeresboden, löste einen verheerenden Tsunami aus und wenige Tage später sogar einen heftigen Vulkanausbruch in dem etwa 100 Kilometer vom Pazifik entfernten Kordillerengebirge. Mehr als 1500 Menschen starben, 3000 wurden verletzt und zwei Millionen obdachlos. Seither wurde Chile weitere zehn Mal an verschiedenen Stellen von Erdbeben mit einer Stärke 7 oder mehr heimgesucht, so auch im Februar 2010.

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Ursache für die hohe Erdbebengefahr ist die geologische Situation des Landes. "Chile hat das Pech, in seiner ganzen Länge auf einer besonders aktiven Nahtstelle der Erde zu liegen", erklärt Sergio Barrientos, Geophysiker an der Universität der Landeshauptstadt Santiago und Leiter des chilenischen Erdbebendienstes.

Entlang der knapp 4500 Kilometer Küste des Landes drückt vom Pazifik her die Nazcaplatte gegen die südamerikanische Kontinentalplatte und schiebt sich unter dieser hinein ins Erdinnere - mit einer Geschwindigkeit von sieben Zentimetern pro Jahr. Das ist, verglichen mit Plattenbewegungen anderswo, relativ schnell. Dazu kommt, dass die Presszone zwischen der Nazca- und der südamerikanischen Platte mit 4000 Kilometern sehr lang ist und auch ziemlich gerade verläuft. Unter diesen Bedingungen können sich über weite Strecken enorme Spannungen im Untergrund aufbauen, die sich in besonders vielen oder in besonders starken Erdbeben mit Bruchzonen von Hunderten Kilometern Länge entladen.

Den nächsten "Big Bang" erwartet der chilenische Erdbebendienst in absehbarer Zeit im Norden des Landes. "Zwischen den Hafenstädten Ilo ganz im Süden von Peru und Antofagasta in Nordchile ist die Erde seit etwa 130 Jahren verdächtig ruhig", sagt Barrientos. "Nördlich und südlich davon haben in der Zeitspanne Beben der Stärke 8 und knapp 9 stattgefunden, aber auf diesen 600 Kilometern zittert die Erde immer nur leicht."

Lama im chilenischen Norden (Foto: Matthias Huber)

Seit einigen Jahren liegen Geologen deshalb dort - an dieser "seismischen Lücke", - mit Messinstrumenten auf der Lauer. Im Rahmen des IPOC-Projektes beobachten und registrieren chilenische und deutsche Wissenschaftler zusammen mit französischen und amerikanischen Kollegen jede Regung in der Knautschzone zwischen der ozeanischen Nazcaplatte und dem südamerikanischen Kontinent. Sie wollen ein detailliertes Bild von den gigantischen Schub- und Druckkräften gewinnen, die nicht nur Erdbeben und Tsunamis verursachen, sondern im Lauf von Jahrmillionen die Andenkordillere aufgefaltet haben und dort eine Reihe von Vulkanen immer wieder ausbrechen lassen.

Geologen errichten Messnetze am "pazifischen Feuerring"

IPOC steht für Integrated Plate Boundary Observatory Chile, auf Deutsch Integriertes Plattengrenzen-Observatorium Chile. Herzstück des Observatoriums sind 20 Messstationen, die im Boden der Atacama-Wüste zwischen den Hafenstädten Iquique und Antofagasta verankert sind.

Leiter des Projektes ist Onno Oncken, Geologe am GFZ, dem Geoforschungszentrum in Potsdam. Er will das Messnetz nun auch auf den Meeresboden ausdehnen. "Wir fangen jetzt an, gemeinsam mit Wissenschaftlern vom Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Geomar in Kiel zusätzlich untermeerische Stationen aufzubauen, um auch die Bewegungen des Meeresbodens zu messen", sagt Oncken, "auch wegen der wichtigen Frage, wie groß das Tsunami-Potenzial eines Bebens ist."

Erdbebenmessnetze gibt es einige in den Gefahrengebieten rund um den pazifischen Ozean, dem "pazifischen Feuerring", wo abtauchende Erdplatten Spannungen im Gestein erzeugen, zum Beispiel auch in Alaska, Indonesien oder Japan. Aber keines erfasst die Prozesse, die zwischen zwei Erdplatten ablaufen, so umfassend wie IPOC. "Dieses Beobachtungsnetz erlaubt es uns in Nordchile, innerhalb von fünf Minuten Ort und Stärke eines Erdbebens zu bestimmen", sagt Barrientos stolz. "Das ist sehr schnell und hilft abzuschätzen, ob es zu einem Tsunami kommen könnte oder nicht." In diesem Fall muss die Bevölkerung in den Küstenstädten schnellstens gewarnt werden.

Neben den Seismometern, welche die Schwingungen noch so kleiner Beben im Untergrund aufzeichnen, Neigungsmessern und Radargeräten zur Registrierung von Deformationen der Erdoberfläche und geoelektrischen Apparaturen zur Analyse von Strukturveränderungen in tieferen Gesteinsschichten liefern vor allem hochpräzise GPS-Geräte hilfreiche Daten. Mit dem satellitengestützten Navigationssystem vermessen die Wissenschaftler ständig die Bewegungen der Erdplatten in der Knautschzone. Noch während die Erde bebt, kann damit sowohl die horizontale als auch die vertikale Verschiebung der Platten erfasst werden.

Das südliche Chile (links) und das Hochplateau Patagoniens (rechts) auf einer Satellitenaufnahme (Foto: Esa)

Anhand der GPS-Daten hat Barrientos während des Bebens im Februar 2010 in Zentralchile zum Beispiel festgestellt, dass sich die Küste innerhalb von nur etwa 30 Sekunden um drei bis fünf Meter nach Westen in Richtung Ozean bewegte. Die südamerikanische Platte hat sich also gegen die Nazcaplatte, die unter ihr abtaucht, verschoben. "Nun wird sie durch den Druck der Nazcaplatte sozusagen wieder zurückgestaucht - bis zum nächsten großen Beben", so der Geophysiker.

Sollte während des erwarteten "Big Bangs" in Nordchile der Meeresboden vor der Küste brechen, könnte sich eine gewaltige Flutwelle aufbauen. Genau auf der Linie, an der die Nazca- unter die südamerikanische Platte abtaucht, liegt nämlich der Atacama-Graben. Der Pazifik bildet hier eine 6700 Meter tiefe Rinne. "Da hat man also 6,7 Kilometer Wassersäule", sagt Oncken, "wenn die durch einen Bruch, ein Beben im Meeresboden in Schwung kommt, dann kann das einen Tsunami auslösen."

Auswirkungen bis nach Japan

Die Flutwelle, die das schwerste gemessene Erdbeben 1960 in Gang setzte, war 25 Meter hoch, als sie auf die zum Glück seinerzeit nicht allzu dicht besiedelte chilenische Küste traf. Westwärts rollte sie über den gesamten Pazifik. Auf den 10 000 Kilometer entfernten Hawaii-Inseln maß sie immer noch elf Meter, tötete 61 Menschen und richtete große Schäden an. Als sie in Japan eintraf, war sie noch gut sechs Meter hoch; 160 Menschen ertranken.

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Die Menschen in den Küstenstädten von Chile könnten sich, wenn sie rechtzeitig gewarnt werden, in Sicherheit bringen. Aber die Hafenanlagen würden großen Schaden nehmen - und das könnte sogar Auswirkungen auf den weltweiten Rohstoffhandel haben. Denn vor allem in der Hafenstadt Antofagasta werden die Erze weltweit verschifft, die in den Bergwerken in der Atacama-Wüste abgebaut werden.

© SZ vom 08.02.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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