Euro-Bilanz 2012:Fieberkurve der Krise

Wo steht Europa in der Krise? Politiker betonen in diesem Winter, der Höhepunkt sei überwunden. Künftig werde der Kontinent den Rest der Welt nicht mehr mit dem Finanzchaos unterhalten. Doch das Resümee für 2012 fällt eher ernüchternd aus - der Eurokurs erzählt die Geschichte eines Jahres voller Höhen und Tiefen.

Wenn Bilanz gezogen wird, lohnt der Blick auf die Zahlen. Und wenn es gilt, das für die Politik in der Eurozone zu tun, liefert der Euro die vielleicht interessantesten Kennziffern: Sein Kursverlauf ist die Fieberkurve des Kontinents.

Die überraschende Erkenntnis: Zwar schwankte die Gemeinschaftswährung in den letzten zwölf Monaten wüst auf und ab, doch jetzt am Ende des Jahres steht die Devise mit einem Wert von etwa 1,30 Dollar genau bei dem Kurs, bei dem sie zu Jahresbeginn auch schon stand.

Das mag man angesichts der horrenden Probleme des Kontinents als Fortschritt deuten. Es kann aber auch ein Signal dafür sein, dass Europa bei der Lösung der Schuldenkrise nicht wirklich vorangekommen ist. Die Ruhe könnte sich als trügerisch erweisen.

"Am Anfang der zweiten Halbzeit"

Die Politik müht sich derzeit, die erfreulichen Entwicklungen des Jahres 2012 zu betonen. So macht es etwa Alexander Stubb, Minister in Finnland für Außenhandel und Entwicklung. Die Europäische Union habe in den vergangenen Monaten eine Reihe von Mini-Siegen errungen und beende das Jahr möglicherweise in der besten Verfassung seit vier Jahren, sagte er. Wenn jemand vor zwölf Monaten den führenden EU-Politikern die Situation angeboten hätte, wie sie sich jetzt gerade darstellt - sie hätten sich gefreut. Alles "fühle" sich derzeit weit besser an als zuvor. Er schließt daraus, dass die Krise ihr akutes Stadium überwunden habe.

Zuversichtlich zeigte sich in den in den vergangenen Tagen auch EU-Binnenmarktkommissar Michel Barnier: "Ich bin überzeugt, dass wir den Höhepunkt der Krise überwunden haben", sagte er, ergänzte aber sofort: "Wir sind erst am Anfang der zweiten Halbzeit."

2012 also noch das Jahr der Vorsätze - 2013 das Jahr der Entscheidungen? Womöglich. Der unentschlossene Kurs des Euro spricht dafür.

Dabei hatte das Jahr für die Gemeinschaftswährung gut begonnen. Ein steiler Aufschwung im Februar war der Rettung Griechenlands geschuldet: Seinerzeit beschloss das Parlament in Athen ein Sparprogramm, dass die Basis für das zweite Rettungspaket der Geldgeber mit Hilfen von bis zu 130 Milliarden Euro war.

Die Besonderheit: Die EU drängte auf die Beteiligung privater Gläubiger - es war eine der ersten großen Entscheidungen Europas in diesem Jahr. Brüssel wollte aber partout eine offizielle Pleite Griechenlands verhindern. Darum wurde von einem "freiwilligen Schuldenverzicht" gesprochen, um die Ratingagenturen ruhig zu stellen. Ganz gelang dies zwar nicht, denn Standard & Poor's erklärte Griechenland für "teilweise zahlungsunfähig". Letzlich ging der Plan der EU aber auf, denn der Internationale Derivateverband entschied, dass trotz des Forderungsverzichts privater Gläubiger Kreditausfallversicherungen nicht einspringen müssten - die gefürchteten Kettenreaktionen an den Finanzmärkten durch den Schuldenschnitt blieben also aus.

Erbittertes Ringen

Der Lohn: Zu keiner Zeit in diesem Jahr war der Euro so begehrt wie im Februar und März, als er seine Jahreshöchststände erreichte. Hinzu kam, dass beim EU-Gipfel der von Deutschland und Frankreich durchgesetzte Fiskalpakt unterzeichnet wurde. Es war der zweite große Schritt 2012. Die Vereinbarung sieht unter anderem eine Schuldenbremse nach deutschem Vorbild vor, die vom Europäischen Gerichtshof überprüft wird. Sie verlangt, dass in der Regel die Neuverschuldung 0,5 Prozent gesamten Wirtschaftsleistung nicht überschreiten darf. Dass soll Regierungen zu Spardisziplin zwingen und Investoren motivieren, Staaten Geld zu leihen.

Doch wie so oft in dieser Krise war die Zuversicht nur von kurzer Dauer. Und so kannte der Euro in den folgenden Monaten nur noch eine Richtung: abwärts. Der tiefe Sturz zog sich bis zum Juli hin, forciert von schlechten Nachrichten, vor allem aus Südeuropa. Die Rezession in Italien und die Bankenkrise in Spanien verschärften sich, in Griechenland scheiterte die Regierungsbildung.

Die Zinsen, die die Euro-Wackelkandidaten für Kredite zu zahlen hatten, schnellten dramatisch in die Höhe. Das EU-Parlament drängte auf schärfere Regeln, um Banken zu beaufsichtigen und regulieren. Anfang Juni präsentierte der Präsident der EU-Kommission dann einen Bankenrettungsplan. In dem Plan ging es vor allem darum, wie Geldhäuser in Notlagen noch gerettet oder - wenn dies nicht klappt - auch abgewickelt werden könnten. Die desolate Lage vieler spanischer Finanzinstitute hatte einmal mehr deutlich gemacht, dass nationale Behörden bei der Beaufsichtigung ihrer Banken oft überfordert waren.

"Es wird ausreichen"

Ende Juli, Anfang August setzte der Euro zu einer eindrucksvollen Rally nach oben an. Doch die war weniger den noch vagen Plänen der EU geschuldet, als einem schmalen Satz von Mr. Euro höchstselbst: Der Chef der Europäischen Zentralbank Mario Draghi hatte betont, die EZB werde "im Rahmen ihres Mandats alles Notwendige" tun, um den Euro zu erhalten. Das war schon für sich genommen eine wichtige Aussage, doch die Lieblingsworte der Finanzmärkte kamen erst danach. Sie lauteten: "Und glauben Sie mir - es wird ausreichen." Womöglich war das der Schlüsselsatz in der Eurokrise im Jahr 2012.

Zugleich wurde den ganzen Sommer über erbittert um den Europäischen Stabilitätsmechnismus (ESM) gestritten. Er sollte als ständiger Rettungschirm den nur behelfsmäßig installierten EFSF ablösen. Doch mehrere Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht drohten die Realisierung des ESM scheitern zu lassen. Als aber die Richter im September ihr Plazet gaben, ging es für den Euro nochmals mit Schwung nach oben. Im Oktober trat der ESM schließlich in Kraft - es war der dritte große Schritt der EU in diesem Jahr. In jenen Wochen erreichte der Euro mit rund 1,30 Euro das Niveau, auf dem er auch jetzt noch liegt.

Der aus EU-Sicht vierte große Schritt - die jetzt erfolgte Einigung auf eine gemeinsame Bankenaufsicht in Europa - blieb hingegen für die Finanzmärkte ohne nennenswerte Bedeutung. Auch wenn Brüssel in der gemeinsamen Aufsicht einen wichtigen Schritt sieht, um das verhängnisvolle Wechselspiel zwischen Bankenpleiten und Staatsverschuldung zu durchbrechen: Für die Finanzmärkte bleibt sie vorerst eine Absichtserklärung.

Darum ist der unveränderte Stand des Euro so symptomatisch für den Stand in der Krise: Es hat sich einiges getan, die Lage hat sich aber noch nicht grundlegend geändert.

Kanzlerin Angela Merkel formulierte das so: "Es liegt noch eine schwere Zeit vor uns." Warum? Weil "die sehr lasche Haushaltsdisziplin über manche Jahre und der Verlust an Wettbewerbsfähigkeit nicht in kurzer Zeit aufzuholen sind." Damit meint sie vor allem die südeuropäischen Staaten.

Der große Wurf soll nun - mal wieder - im kommenden Jahr stattfinden. Doch was wäre der große Wurf überhaupt? Da zumindest scheinen sich die EU-Politiker einig zu sein: Eine tiefgreifende Reform der Euro-Zone. Einen Teil dieser Reform soll EU-Ratspräsident Herman Von Rompuy vorbereiten, der bis zum Juni 2013 neue Vorschläge ausarbeiten muss. Darin soll es unter anderem um Aktionen und einen Zeitplan zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung in der Eurozone gehen. Dazu zählen bilaterale Verträge zwischen einzelnen Staaten und der EU-Kommission, in denen die Umsetzung von Reformen vereinbart wird. Auch die Schaffung eines Solidaritätsfonds, der Staaten in der Krise zugute kommt, die solche Verträge eingehen, soll geprüft werden.

Rettungsroutine

Konjunkturhilfen? Nein!

Van Rompuy und EU-Kommissionchef José Manuel Barroso hatten vor dem Gipfel einen etwas anderen Reformplan entworfen, der Ideen wie etwa ein gesondertes Budget der Eurozone zur Abfederung wirtschaftlicher Schocks in einzelnen Ländern sowie einen konkreten Zeitplan für die kommenden Jahre enthielt.

Diese Vorschläge waren aber auf Betreiben einiger Mitgliedstaaten verworfen worden. Nun soll das Geld nicht fließen, um ökonomische Einbrüche zu dämpfen, sondern um sparwillige Regierungen für vertraglich vereinbarte - und auch wirklich umgesetzte - Reformen zu belohnen. Kurz: Es geht nicht mehr um Konjunkturhilfen, sondern um Strukturreformen. Doch dieser Fonds werde nur "ein sehr begrenztes Budget" haben, versicherte Merkel. "Nicht im dreistelligen Milliardenbereich, sondern eher bei zehn, 15 oder 20 Milliarden." Sie muss immer beschwichtigen, denn sie weiß, wieviel Angst ihre Wähler vor den Kosten der Krise haben.

Ein weiterer Punkt des Fahrplans: Die Kommission soll im Laufe des kommenden Jahres ein Konzept zur Abwicklung maroder Geldhäuser vorlegen. Das wäre die Konkretisierung des Bankenrettungsplans, den die EU im Sommer 2012 vorgestellt hatte.

Die Deutsche Gesellschaft für Sprache stellte an diesem Freitag mit dem Begriff "Rettungsroutine" ihr Wort des Jahres 2012 vor. Vielleicht ist das auch die treffenste Bilanz für die vergangenen zwölf Monate: Es war ein Jahr der Rettungsroutine - keine Höhepunkte, keine Tiefschläge. Immerhin.

Frankreichs Staatschef François Hollande zog übrigens mit anderen Worten Bilanz: Er sagte, dass nun die Zeiten vorbei seien, in denen Europa mit seinen Schwierigkeiten der Welt ein Schauspiel biete. Der Euro allerdings, der nur mit Hilfe von Draghi 2012 sein Niveau halten konnte, demonstiert mit seinem unentschlossenen Kurs, dass Europa die Welt womöglich noch eine Zeitlang gut unterhalten könnte.

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