Deutschland:Der Überschuss, der keiner ist

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Trend in Deutschland: lieber neu bauen als sanieren (im Bild die Baustelle der Elbphilharmonie in Hamburg) (Foto: dpa)

Deutschland glitzert: Das Land erzielt mitten in der Euro-Krise einen hübschen Überschuss. Dummerweise gibt es nichts zu jubeln. Denn die Zahlen sehen nur deswegen gut aus, weil konsequent alle offenen Rechnungen ignoriert werden.

Ein Kommentar von Hans von der Hagen

Europa steckt in einer tiefen Krise. Doch mittendrin ist ein Land, dem es allem Anschein nach prächtig geht: die gute alte Bundesrepublik. Ungewöhnlich viele Menschen stehen da in Lohn und Brot, die Zinsen sind ungewöhnlich niedrig, die Industrie ist ungewöhnlich zufrieden und die Deutschen kaufen ungewöhnlich großzügig ein, obwohl sie ungewöhnlich viele Steuern zahlen.

Und weil alles so ungewöhnlich ist, gab es - exotisch genug - im deutschen Haushalt im ersten Halbjahr sogar einen Überschuss. Der fällt zwar mit 8,5 Milliarden Euro, gemessen an den gesamten Einnahmen von gut 600 Milliarden Euro, noch eher bescheiden aus, aber immerhin: ein Plus.

Für die Bundesregierung hat das kleine Plus womöglich genau die richtige Dimension. Zu viel der guten Zahlen könnte bedeuten, dass der Unmut in Europas Krisenländern über die zähe Kanzlerin Angela Merkel nur noch wachsen würde. Zudem wachen bei so erfreulichen Daten natürlich auch hierzulande all jene auf, die Geld abschöpfen wollen: Die einen denken da an die Abschaffung des Soli-Zuschlags, die anderen an höhere Bezahlung für Beamte - Ideen gibt es genug.

Andererseits sieht vor Wahlen ein Plus natürlich immer besser aus als ein Minus. Das weiß die Bundesregierung nur zu gut. Der Wähler soll gar nicht erst auf die Idee kommen, das scheinbar so erfolgreiche Regierungsteam auszutauschen.

Wer sich die deutschen Zahlen genauer anschaut, stellt fest, dass der Überschuss nicht vom Bund, sondern von den Gemeinden und Ländern erwirtschaftet wurde. Konkret: Die Kommunen trugen zu den etwa 8,5 Milliarden Euro satte 5,3 Milliarden bei, die Länder 1,2 Milliarden Euro. Weitere 4,3 Milliarden Euro stammen aus dem Plus der Sozialversicherung. Und der Bund: Der gab 2,2 Milliarden Euro zu viel aus. Bei der Bundesregierung steht also ein Minus.

Welche Schlüsse sollen nun aus den Daten gezogen werden? Dass es den Kommunen richtig gut geht, den Ländern ziemlich gut und dem Bund fast gut? Nein. Die Wahrheit ist: Keiner weiß genau, wie es tatsächlich um Bund, Länder und Gemeinden steht. Nur eines ist sicher: Die Lage ist weit schlechter, als die Daten es zeigen, weil in den Zahlenwerken der öffentlichen Hand konsequent die offenen Rechnungen ausgeblendet werden.

Gemeint sind damit alle Ausgaben, die unausweichlich auf die öffentlichen Kassen zurollen. Dazu gehören etwa die Kosten für den Unterhalt der öffentlichen Gebäude oder die Pensionen für die Beamten. Die öffentliche Hand kalkuliert so, als müssten diese Rechnungen nie beglichen werden. Würde ein Unternehmen so etwas machen, würde sofort der gesamte Vorstand davongejagt werden. Firmen sind verpflichtet, für erwartbare kommende Zahlungen Geld zurückzulegen.

Die öffentliche Hand muss das nicht, weil sie anders als Unternehmen keine Bilanz erstellt. Sie schaut nur, was aktuell in die Kasse rein- und aus der Kasse rausfließt. Es ist eine ganz andere Form der Buchhaltung, die vorausschauendes Handeln unterbindet. Viele Gemeinden haben darum keinen Überblick über ihr Vermögen - und wie viel Geld für den Unterhalt parat gehalten werden müsste.

Hinzu kommt, dass Kosten für Instandhaltung nicht auf Pump finanziert werden dürfen, sondern aus den laufenden Einnahmen beglichen werden müssen. Anders ist es bei Investitionen. Für neue Gebäude und Straßen darf Kredit aufgenommen werden. Wer sich also immer schon gewundert hat, warum irgendwo das Dach der Schule einstürzt und gleichzeitig ein Minister eine Autobahn einweiht, die kein Mensch braucht - es liegt genau daran. Die Regel, nach der derzeit noch viele öffentliche Haushalte funktionieren, lautet: Nicht sanieren, auch wenn es viel sinnvoller wäre, sondern verrotten lassen und irgendwann notfalls neu bauen. Dann stimmt die Rechnung.

Wer konsequent alle notwendigen Ausgaben ausblendet und jegliche Vorsorge vermeidet, tut sich eben leichter, einen ausgeglichenen Haushalt zu präsentieren. So wie es beispielsweise auch Bayern vorhat. Doch ein solcher Haushalt wäre pure Blenderei. Der Ökonom Bernd Raffelhüschen hatte schon im vergangenen Jahr ausgerechnet, dass das flächenmäßig größte deutsche Bundesland kaum Geld für die Versorgung seiner Beamten zurückgelegt hat. 220 Milliarden Euro würde Bayern darum an versteckten Schulden vor sich herschieben.

Dass es auch anders geht, beweist das Land Hessen. Es veröffentlichte bereits im Jahr 2009 eine Bilanz. Das Pikante: Dort, wo bei gesunden Unternehmen in der Jahresabrechung das Eigenkapital stehen würde, stand: nichts. Stattdessen fand sich auf der anderen Seite der Bilanz ein Posten, der "Nicht durch Eigenkapital gedeckter Fehlbetrag" hieß. Er betrug knapp 58 Milliarden Euro. Das sind genau jene Lasten, die Länder wie Bayern nirgends ausweisen.

Würden der Bund, alle Länder und Gemeinden so transparent arbeiten wie Hessen, könnte man sehen, wie es wirklich um Deutschland steht. Doch dazu fehlt der Mut. Immerhin: Viele Gemeinden fangen an, Bilanzen zu erstellen. Wenn das so weitergeht, werden Deutschlands Zahlen in einigen Jahren womöglich nicht mehr so glitzern. Und trotzdem wären sie besser.

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