Deutsche Bahn:Weiche des Wahnsinns

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Kein anderes Unternehmen bedenkt der Steuerzahler so großzügig wie die Deutsche Bahn. Nur mit der Gegenleistung hapert es. Wer verstehen will, was heute schiefläuft, muss 17 Jahre zurückgehen. Eine Ursachenforschung.

M. Bauchmüller u. D. Kuhr

Es gibt seltsame Bahnhöfe zwischen Düsseldorf und Kleve. Martin Meyer-Luu hat das in diesem Winter wieder festgestellt. "Bei manchen ist das eine Gleis beheizt und das andere nicht", sagt der Geschäftsführer der Nordwestbahn, das ist einer der größten privaten Konkurrenten der Deutschen Bahn. "Kein Mensch kann mir erzählen, dass es auf der einen Seite des Bahnhofs wärmer ist als auf der anderen."

Der Groll vieler Bürger auf die Deutsche Bahn ist groß. (Foto: dpa)

Als der Frost kam, wurde der Verkehr auf der Strecke teilweise unmöglich. Züge fielen aus. Es ist ein kleines Beispiel für die großen Probleme, in die Deutschlands Eisenbahn geraten ist. So umstritten, so anfällig wie in diesem Winter war die Bahn lange nicht mehr.

Für Meyer-Luu ist das längst nicht nur ein Winterproblem, es ist ein Schaden im System. Da wären etwa Stellwerke "von vor dem Krieg" oder Schrankenanlagen, für die es schon lange keine Ersatzteile gibt. "Das ist, als müssten sie ein altes Röhrenradio in Schuss halten", sagt Meyer-Luu. Jahrelang habe die Bahn sich auf kleineren Strecken durchgewurschtelt und improvisiert, immer im Dienste der Rendite. "Irgendwann fällt einem das auf die Füße." Dieser Punkt sei jetzt erreicht.

Es gibt viele Puzzleteile der Krise, manche sind gut verborgen. Da wäre der Anspruch an die Rendite, der sich oft schlecht verträgt mit einem reibungslosen Verkehr. Da wären enge Geflechte zwischen Bahn und Politik, die eine strikte Kontrolle unmöglich machen. Nicht zuletzt ist da die Macht eines Unternehmens über 33.000 Kilometer Schiene, das sich auf seinen Gleisen dem Wettbewerb stellen soll, aber die Konkurrenz gern behindert. Und da sind jährlich knapp zwei Milliarden Fahrgäste, die sich auf die Bahn gerne verlassen würden - und die sich zuletzt oft von ihr verlassen fühlten.

Wer verstehen will, was heute schiefläuft, muss 17 Jahre zurückgehen. Ende 1993 war die Bahn ein Fall für die Reha, ohne Aussicht auf vollständige Genesung. Das Unternehmen war zusammengewürfelt aus Bundesbahn West und Reichsbahn Ost, machte mehr als acht Milliarden Euro Verlust. Dabei hatte der Bund dem Koloss schon 1991 langfristige Schulden von 6,4 Milliarden Euro abgenommen. Nun sollte ein Kraftakt das Unternehmen retten: die Bahnreform.

Eine einzigartige Spezie

Damals wurde die Bahn zur Aktiengesellschaft, es war der erste Schritt auf dem Weg zur Börse. Was nach Behörde roch, wanderte aus dem Unternehmen ab: Die Pensionslasten und der Stamm der Beamten ging in das Bundeseisenbahnvermögen, die Kontrolle ins Eisenbahnbundesamt. Nur das Schienennetz, wenngleich öffentliche Infrastruktur, blieb bei dem Unternehmen, seine Abspaltung misslang. Der Bund sicherte großzügig die Finanzierung zu.

1994 war das Geburtsjahr einer einzigartigen Spezies: eines Unternehmens, das zwar privat agieren soll, aber im Eigentum der öffentlichen Hand ist; das zwar die Infrastruktur bilanzieren darf, dafür aber jährlich Milliarden vom Bund bekommt; das zwar verfassungsmäßig betraut ist mit "dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere den Verkehrsbedürfnissen", gleichzeitig aber auf dem Pazifik Güter von China in die USA transportiert.

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Rechtzeitig vor dem Weihnachtsbaum zu stehen, wurde für viele zur Herausforderung: Schnee und Glätte legten an Heiligabend den Verkehr auf der Schiene, Straße und in der Luft lahm, auch am ersten Weihnachtsfeiertag kam es zu Verzögerungen. An manchen Orten in Europa war es jedoch romantisch.

Das alles ist die Deutsche Bahn AG, die in diesem Winter in die vielleicht größte Vertrauenskrise ihrer Geschichte gerutscht ist und jetzt verzweifelt Züge, Gleise reparieren muss - und ihr Image. Wie kein zweites hängt dieses Unternehmen an der öffentlichen Hand.

Die Bahn mag Großgewinne machen, für 2010 könnte das Ergebnis wieder weit über einer Milliarde Euro liegen. Doch gleichzeitig bezieht sie Milliarden auch vom Bund. 2,5 Milliarden Euro etwa erhält sie jährlich aus der "Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung", die der Konzern 2008 mit dem Bund schloss - für Investitionen ins Netz. Im Gegenzug verspricht die Bahn, die Schienenwege uneingeschränkt nutzbar zu halten.

Weitere 1,4 Milliarden Euro steckt der Bund in den Aus- und Neubau von Schienenstrecken. 5,5 Milliarden Euro macht er jährlich für die Pensionslasten des Bundeseisenbahnvermögens locker, eine Altlast der Bahn. Den Nahverkehr des Unternehmens, wie auch seiner Konkurrenz, bezuschusst er mit jährlich sieben Milliarden Euro, aus denen die Länder wiederum Regionalzüge und S-Bahnen finanzieren, nicht selten die der Deutschen Bahn AG. Wenn der Bund nun eine halbe Milliarde Euro Dividende von der Bahn will, nimmt er sich Geld, das er vorher gegeben hat.

Das enge Miteinander schafft Spielräume, von denen andere nur träumen. Die Bahn hat zwar mit der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung auch Pflichten übernommen. Die Umsetzung aber überprüft sie selbst. Auch verschwindet manche Mängelstelle im Netz einfach dadurch, dass Züge langsamer fahren: Ist die Zeitverzögerung erst in den Fahrplan einkalkuliert, ist sie so gut wie vergessen.

Auch an den Einfluss der Bahn auf das Schienennetz wagt sich der Bund bisher nicht heran. So kann die Firma immer noch auf die Gewinne der Netzsparte zurückgreifen. Das spülte allein 2009 mehr als eine halbe Milliarde Euro in ihre Kasse. Dabei soll diese Sparte vor allem ein funktionsfähiges Schienennetz garantieren und nicht Gewinne des Mutterkonzerns.

Warten auf die Stärkung des Marktes

Überlegungen, die Verflechtung zu lösen, gibt es. Sie sind aber nur Papier, ein "Prüfauftrag", mehr nicht: "Wir prüfen sehr genau, wie das Netz, der Betrieb und die Gewinnabführungen am sinnvollsten geregelt werden", sagt Verkehrsminister Peter Ramsauer (CSU). "Der Prüfauftrag aus dem Koalitionsvertrag wird in den nächsten Wochen abgeschlossen sein."

Der Koalitionsvertrag fordert auch eine Stärkung der Bundesnetzagentur. Sie soll von Bonn aus für Wettbewerb auf jenen Märkten sorgen, die ohne Netze nicht funktionieren würden: bei Strom, bei Gas, in der Telekommunikation und bei der Bahn. Wann es die Stärkung gibt? Man weiß es nicht. Derzeit beschäftigen sich in der Bonner Behörde nur halb so viele Mitarbeiter mit der Bahn wie mit dem ebenfalls schwierigen Energiemarkt.

Der Ärger bei der privaten Konkurrenz wächst. 80 Millionen Euro etwa zahlt die Nordwestbahn jährlich an die Netzsparte der Bahn, einen Teil will die Gesellschaft wegen der Vorfälle in diesem Winter zurückfordern. Gleichzeitig aber will die Bahn die Preise für Schienennetz, Bahnhöfe und Strom erhöhen. Zwischenzeitlich hat die Privatbahn mal gezählt, an wie vielen Punkten ihres 1300-Kilometer-Netzes sie wegen Mängeln das Tempo drosseln muss. Kurioserweise kam sie auf mehr Stellen, als die Deutsche Bahn für das gesamte Schienennetz angibt. "So geht es nicht weiter", klagt Privatbahn-Chef Meyer-Luu. "Wir laufen Gefahr, dass es zu einer Art Stillstand kommt."

Dabei sind die Investitionen ins Netz in den vergangenen zehn Jahren etwa gleich geblieben, sie liegen um die sechs Milliarden Euro. So manches habe sich im Schienennetz auch zum Besseren entwickelt, betont die Netztochter. Nur stellt sich die Frage, ob all die Investitionen reichen, ob sie am rechten Ort landen.

Die Bahn hat mittlerweile eine Qualitätsoffensive und ein umfangreiches Investitionsprogramm angekündigt. Innerhalb von fünf Jahren will der Konzern nun 41 Milliarden Euro für Infrastruktur, die Generalüberholung alter Züge sowie den Kauf von rund 300 neuen Fernverkehrs-Zügen ausgeben. Bis sich das bemerkbar macht, wird es aber dauern. "2011 bleibt es kritisch", sagt Personenverkehrs-Vorstand Ulrich Homburg.

Erst am Mittwoch hatte der 55-Jährige zu einer Präsentation in den Bahntower eingeladen. Hoch oben über Berlin erklärte er den Journalisten, was der Konzern auf den Weg gebracht habe und noch bringen wolle, um eines der Hauptprobleme zu lösen: die Zugknappheit. Im nächsten Jahr sollen 15 neue ICE erste Entspannung bringen.

Etwa 200 weitere sollen von 2016 an die Intercity-Flotte und die älteren ICE ersetzen. Der Vertrag dafür ist allerdings noch nicht geschlossen. Um die Fahrgäste nicht allzu lange warten zu lassen, will die Bahn für 2013 erstmals 27 Doppelstockzüge für den Fernverkehr anschaffen. Homburg wirft eine Animation an die Wand, die den neuen Zug als schnittigen weißen Flitzer auf Schienen zeigt.

Ob die hohen Züge auch durch Tunnel fahren könnten, will ein Journalist wissen. Homburg wirkt nur den Bruchteil einer Sekunde verblüfft. "Beim ersten Mal nicht", sagt er dann im Scherz. "Die müssen erst zwei Mal durchfahren, dann passt es". Als kurz darauf eine ähnliche Frage kommt, muss der Personenverkehrsvorstand lachen: "Ich hoffe, Sie unterstellen uns jetzt nicht völlige Blödheit." Er macht eine Pause. "Wobei das natürlich von außen betrachtet in den vergangenen Tagen manchmal die nächstliegende Möglichkeit gewesen sein mag."

© SZ vom 15./16.01.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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