Belgien:Der Brexit spaltet noch ein Königreich

Paul Magnette

Was tun mit den Briten? Paul Magnette, der wallonische Ministerpräsident, hat sich für seine Verhältnisse bislang bedeckt verhalten. Foto: Yves Logghe/AP

(Foto: AP)
  • Durch Belgien geht ein Riss: Die Wallonen fordern einen harten Brexit, die Flamen haben vor genau dem Angst.
  • Es steht viel für sie auf dem Spiel: Fast 90 Prozent aller belgischen Exporte nach Großbritannien kommen aus Flandern.

Von Alexander Mühlauer, Brüssel

Man muss nur mal raus aus Brüssel und die Autobahn Richtung Süden nehmen, um dann recht schnell festzustellen: Hier tut sich nicht gerade viel. Ein paar Kühe stehen auf den Weiden, das Gras ist wunderbar grün und auch sonst lässt es sich schön unaufgeregt dahinfahren. Die großen Lastwagen sind in Belgien anderswo unterwegs. Hier, in der Wallonie, erinnern nur noch Industrieruinen an jene Zeit, als die französischsprachige Region mit Kohle und Stahl sehr gute Geschäfte machte. Nach dem Zweiten Weltkrieg drehten sich jedoch die wirtschaftlichen Verhältnisse in Belgien: Die Flamen haben die Macht übernommen.

Durch das Königreich geht seit jeher ein Riss. "Sire, Sie regieren zwei Völker", schrieb der sozialistische Politiker Jules Destree 1912 in einem berühmten Brief an den damaligen König Albert: "Es gibt in Belgien Wallonen und Flamen; es gibt keine Belgier." Auch heute wissen viele Flamen und Wallonen noch immer nicht so recht, was sie miteinander anfangen sollen. Der Sprachenstreit hat das Land gespalten und nur mühsam gelingt es, irgendwie zusammenzufinden.

Die Wallonie hat nicht viel zu verlieren, Flandern schon

Gerade politisch ist das schwer, auch wenn die Regionen ihre eigenen Parlamente haben. Doch bei Fragen, bei denen es um das große Ganze geht, müssen sie wohl oder übel mit der Föderalregierung in Brüssel zusammenarbeiten. Belgiens Premierminister Charles Michel bleibt nichts anderes übrig als zu moderieren. Nun tut sich ein neuer Konflikt auf - und schuld daran ist der Brexit. Der EU-Austritt Großbritanniens teilt Belgien in zwei Lager. Während die frankophonen Wallonen auf einen knallharten Verhandlungskurs gegenüber den Briten setzen, fordern die Flamen einen "soft Brexit".

Kein Wunder, denn Flandern hat viel mehr zu verlieren als die Wallonie. Fast 90 Prozent aller belgischen Exporte nach Großbritannien kommen aus der nördlichen Region des Landes. Bis zu 2,5 Prozent der Wirtschaftsleistung könnte der Brexit Flandern bis zum Jahr 2030 kosten, warnt der flämische Ministerpräsident Geert Bourgeois. Nur für Irland stehe noch mehr auf dem Spiel, meint er. Bourgeois verlangt deshalb von der Föderalregierung in Brüssel, dass sie alles daran setzt, um einen harten Brexit zu verhindern.

Die große Angst: Hohe Zölle für beide Seiten

Der Flame rührt mit seiner Haltung an einem Grundpfeiler der gemeinsamen Verhandlungsstrategie der EU. Chefunterhändler Michel Barnier will erst über ein Handelsabkommen mit London sprechen, wenn die Bedingungen des EU-Austritts klar sind. Dazu zählen drei Dinge: die Frage, welche Rechte EU-Bürger in Großbritannien haben, die Brexit-Rechnung für das Vereinigte Königreich und die künftige Grenze zwischen Irland und Nordirland. Erst wenn darüber Einigkeit besteht, will die EU darüber verhandeln, wie die Wirtschaftsbeziehungen künftig aussehen könnten. Doch davon will der flämische Ministerpräsident nichts wissen. "Wir müssen gleichzeitig über ein neues Handelsabkommen sprechen, um nicht eine Situation zu bekommen, dass wir auf die Regeln der Welthandelsorganisation zurückfallen", sagt Bourgeois. Er fürchtet vor allem eines: hohe Zölle für beide Seiten.

Um das zu verhindern, soll es eine Übergangsphase geben. Doch wie lange diese dauern wird und ob die Briten währenddessen wirklich bereit sind, weiterhin die Freizügigkeit von Arbeitnehmern sowie die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu akzeptieren, ist ungewiss. In den Augen des flämischen Ministerpräsidenten ist es diese Unsicherheit, die es zu verhindern gilt. Deshalb sei die Position Flanderns sehr viel offensiver als jene der Wallonie, wenn es darum geht, wann das Handelsabkommen mit London verhandelt werden soll, erklärt Bourgeois.

Droht ein ähnliches Debakel wie schon bei Ceta?

Der Streit offenbart erneut die innere Zerrissenheit Belgiens. Und er schafft ein politisches Problem, das am Ende die gesamte EU zu spüren bekommen könnte. Denn anders als bei der Austrittsvereinbarung nach Artikel 50 der EU-Verträge, müssen einem Handelsvertrag mit Großbritannien am Ende alle belgischen Regionalparlamente zustimmen. So wie schon bei Ceta, als die Wallonie den Vertrag mit Kanada fast zum Scheitern brachte. Noch ist es nicht soweit, doch der Flame Bourgeois warnt schon jetzt: "Wir müssen ein Debakel wie bei Ceta auf jeden Fall vermeiden."

Paul Magnette, der wallonische Ministerpräsident, hat sich für seine Verhältnisse bislang bedeckt gehalten. Er stehe zur Haltung der EU, wonach erst die Modalitäten des britischen Austritts geregelt werden sollen. Erst danach soll es um das künftige Verhältnis gehen. Magnette geht es darum, dass nicht andere Staaten auf die Idee kommen, die EU zu verlassen, weil man es ihnen zu leicht macht.

Die belgische Föderalregierung wiederum versucht zu vermitteln. Einmal jede Woche treffen sich Abgesandte aus Flandern und der Wallonie im Außenministerium in Brüssel. Und anders als bei Ceta sollen die Gespräche bislang ohne wüste Vorwürfe ablaufen. Belgiens Premierminister Michel sei darauf bedacht, das gemeinsamen Interesse in den Vordergrund zu stellen - und dies sein nun mal die Einheit der verbleibenden 27 EU-Staaten.

Bei den bisherigen Treffen der Sherpas, also den EU-Beratern der Staats- und Regierungschefs, zeichnete sich eine weitgehende Einigkeit für die Brexit-Gespräche ab. Die Verhandlungslinie der Union gegenüber Großbritannien ist äußerst hart - sprich eher wallonisch als flämisch. Zunächst geht es um den Austritt, dann um die künftigen Beziehungen. Diese Abfolge hatte EU-Ratspräsident Donald Tusk Ende März vorgeschlagen. Die Leitlinien für die Verhandlungen sollen dann bei einem Sondergipfel am 29. April von den Staats- und Regierungschefs gebilligt werden.

Als sich die Sherpas vergangene Woche zum ersten Mal gemeinsam über den Entwurf beugten, gab es bei allen zentralen Elementen Konsens. Der ursprüngliche Entwurf der Leitlinien wurde nur minimal verändert. Die Diskussion habe gezeigt, dass der breite Wunsch bestehe, zuallererst die Auswirkungen des Brexits für Bürger zu verhandeln, erklärte ein Ratsvertreter. "Unsicherheit und Brüche sind eine Folge der britischen Entscheidung auszusteigen", hieß es. Aber die EU werde sich um Begrenzung des Schadens bemühen.

Der letzte Satz klang dann schon wieder so, wie ihn die Flamen auch gerne hören wollen. In Nordbelgien sind sie sicher: In Kontinentaleuropa gibt es auch noch andere Regionen, die wirtschaftliche Nachteile fürchten. Sie würden sie nur nicht trauen, was zu sagen. Zumindest jetzt noch nicht.

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