Armut trotz Boom:Ohne Reformen wird Altersarmut ein riesiges Problem

Senioren bei einem Spaziergang

Billigjobs und teure Mieten begünstigen Armut von Rentnern.

(Foto: Sebastian Gollnow/dpa)

Hartz IV ist nicht gut, aber es ist besser als sein Ruf. Statt über die Reformpolitik von einst zu streiten, sollte die Regierung die Risiken der Zukunft angehen.

Kommentar von Nikolaus Piper

Deutschlands Wirtschaft geht es so gut wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Gerade haben die führenden Forschungsinstitute ihre Wachstumsprognose nochmals angehoben, die Arbeitslosigkeit sinkt kontinuierlich und die Zahl der freien Stellen steigt. In einigen besonders erfolgreichen Branchen herrscht bereits Überbeschäftigung in dem Sinne, dass der Mangel an Fachkräften das Wachstum bremst. Der Aufschwung erlaubt kräftige Lohnerhöhungen wie gerade im öffentlichen Dienst. Den meisten Menschen geht es heute besser als vor fünf Jahren. Umso skandalöser erscheint vielen die Armut, die es noch immer gibt.

Auf ihrem Sonderparteitag am Sonntag wird sich die SPD, getrieben von der Linkspartei, mit ihrem Trauma Hartz IV quälen. Soll die Bundesregierung Gerhard Schröders Sozialreform abschaffen, soll die SPD sich gar für das Hartz-IV-"System" entschuldigen, wie der linke Flügel fordert? Besser wäre es, die Sozialdemokraten würden - im eigenen Interesse und dem des Landes - die Armutsdebatte vom Kopf auf die Füße stellen.

Ja, es gibt Armut in diesem Land. Aber hier ist Präzision nötig: Knapp ein Fünftel der Bevölkerung gelten als "armutsgefährdet", weil sie weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben. Wenn man Armut auf diese Weise "relativ" begreift, hat dies den Vorteil, dass auch das gesellschaftliche Umfeld der Menschen erfasst wird. Der Nachteil dieser Größe besteht darin, dass sie aus statistischen Gründen kaum sinken kann. Mehr noch: Steigen die Löhne kräftig, steigt auch der Anteil der relativ Armen, ohne dass sich an ihrer Lage etwas geändert hätte.

Der Fehler vieler alarmistischer Berichte besteht darin, die Grenze zu verwischen zwischen relativer und absoluter Armut, einem Zustand unmittelbarer, existenzieller Not. Hartz IV ist nicht gut, aber es ist besser als sein Ruf. Es ist eine Solidarleistung, die in der Regel den Absturz aus der relativen in die absolute Armut verhindert.

Hartz IV hat im Übrigen durchaus etwas mit dem Aufschwung zu tun. Das ungeliebte System ist zwar nicht allein verantwortlich dafür, dass die Wirtschaft so gut aus der Finanzkrise gekommen ist. Wichtiger waren die Geldpolitik der Notenbanken und die Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften. Aber die Agenda hat den Aufschwung unterstützt, indem sie den Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit gefördert hat. Die Zahl der Menschen, die lange (bis zwei Jahre) ohne Arbeit sind, ist gesunken, die der sehr lange Unbeschäftigten (drei Jahre und mehr) ist gestiegen - ein Kern von Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, durch den Aufschwung nicht erreicht werden und eine besondere Förderung brauchen.

Beim Streit um Hartz IV geht es meistens darum, die Sätze zu erhöhen und die Sanktionen abzuschaffen für Arbeitslose, die angebotene Jobs nicht annehmen. Das liefe darauf hinaus, die Arbeitslosigkeit hinzunehmen. Im Grunde würden Hartz-IV-Empfänger eine Art bedingungsloses Grundeinkommen beziehen, ohne Kontrolle, was zum Missbrauch einladen würde. Das "solidarische Grundeinkommen", das Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller vorschlägt, ist eine Art Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, die nur wenigen Arbeitslosen helfen und womöglich reguläre Jobs in Gärtnereien und Reinigungsbetrieben zerstören würde.

Teure Wohnungen sind ein Armutsrisiko

Der jetzige Aufschwung wird nicht ewig dauern. Die Regierungskoalition sollte, statt um Hartz IV zu streiten, die guten Jahre nutzen, um die bereits heute erkennbaren Armutsrisiken der Zukunft anzugehen. Das größte Risiko liegt in der Rente. Ohne grundlegende Reformen bekommt Deutschland nach 2030 ein riesiges Problem mit Altersarmut. Dann gehen Menschen mit gebrochenen Erwerbsbiografien in Renten, die keine Chance hatten, ausreichend Beiträge zu zahlen: Menschen, die der Zusammenbruch des Sozialismus in Ostdeutschland getroffen hat, die nur Billigjobs fanden oder als Flüchtlinge ins Land kamen. Nach jetziger Gesetzeslage könnte massive Altersarmut nach 2030 nur verhindert werden durch für den Arbeitsmarkt zerstörerische Beitragssätze oder eine unkontrollierte Belastung des Bundeshaushalts.

Ein weiteres Armutsproblem hat direkt mit dem Aufschwung zu tun: Den exorbitanten Anstieg der Wohnkosten in München, Berlin, Köln und anderen Ballungsräumen hat bisher niemand in seiner Lebensplanung vorgesehen. Wer nicht zuvor eine Immobilie gekauft hat, kann sich selbst mit guter Rente in vielen Ballungsräumen keine Wohnung mehr leisten.

Das bedeutet nicht, dass bei Hartz IV alles so bleiben muss wie es ist. So sollten die besonders harten Sanktionen für Jugendliche gemildert werden. Auch die Obergrenze des Vermögens, das für Hartz-IV-Empfänger unangetastet bleibt, ist noch zu niedrig. Korrekturen sind sinnvoll - aber es wäre fatal, würde die Politik die Verhältnisse nicht nutzen, um die Probleme der Zukunft anzugehen.

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