WM 2010: Viertelfinale:Zurück zum Zuckerhut

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In einem dramatischen Duell versagen dem fünfmaligen Weltmeister Brasilien die Abwehrkräfte. Die Niederlande ziehen mit einem 2:1-Sieg ins Halbfinale ein.

Moritz Kielbassa

Brasilien gegen Niederlande, da denkt der Fußball-Liebhaber an: Samba gegen Oranje, schönes Spiel (jogo bonito) gegen Fußball total. Johan Cruyff, der große Ästhet aus Amsterdam, dachte an: Schande gegen Ärgernis. Ja, Cruyff nannte Brasiliens Choreografie von 2010 eine "Schande für die WM", weil die Zauberer vom Zuckerhut plötzlich als homogenes, abwehrstarkes Kollektiv auftraten. Seine Holländer hatten Cruyff bisher in Südafrika ebenfalls nur mäßig amüsiert, mit ihrem neuen, kühlen Ergebnisfußball, der sich gar nicht mehr in selbstgenügsamer offensiver Schönheit verlor. Im Viertelfinale von Port Elizabeth am Freitagabend haben die kühlen Ergebnisfußballer dann aber ein heißes Spiel geboten. Holland zog durch ein 2:1 (0:1) ins Halbfinale ein und Brasilien, der fünfmalige Weltmeister und ewige Titelfavorit, hat den Blues.

Nie aufgeben. Immer weiter. Arjen Robben (links) feiert mit Dirk Kuyt. (Foto: rtr)

Stürmer Robinho (10.) hatte die in der ersten Halbzeit starke Selecao in Führung gebracht, nach Pass von Felipe Melo. Melo jedoch wurde vom Vorbereiter zum Wegweiser nach Hause: als Eigentorschütze bei Hollands 1:1 (53.). Und als Rot-Sünder nach Tätlichkeit gegen Arjen Robben (73.). Es war die hässlichste Kampfhandlung einer zäh geführten Partie. Nach Wesley Sneijders Kopfball zum 2:1 (68.) fehlte den ganz auf Dominanz und Sieg geeichten Brasilianern die Kraft zur Gegenwehr in der Notlage. Die Spieler in Orange führten Veitstänze auf, sie hatten - wieder mit hoher Effizienz - Großes vollbracht, dank ihres Kleinsten. Spielgestalter Sneijder, 1.70 Meter, als Siegtorschütze, das war die Pointe.

Carlos Dunga konnte darüber nicht lachen. "Wir haben unser Ziel, Weltmeister zu werden, verpasst", sagte Brasiliens Trainer, "wir sind sehr traurig, das hatten wir so nicht erwartet." Den rapiden Leistungsknick nach der Pause vermochte er nur festzustellen, nicht zu erklären: "Wir waren nicht in der Lage, in der zweiten Halbzeit den Rhythmus und die Konzentration der ersten beizubehalten."

Sein Kollege Bert van Marwijk bestätigte, dass Hollands viertes WM-Halbfinale (nach 1974, '78 und '98) auch in den 15 Minuten erreicht wurde, die keiner sah: in der "Kleedkamer", der Kabine, so van Marwijk "habe ich ihnen gesagt, dass wir unser Spiel durchziehen müssen. Dass es so nicht weitergeht. Danach waren wir cleverer und viel überzeugter." Noch sei die Reise nicht zu Ende, sagte Robben, "wir wollen noch zwei Spiele gewinnen, dafür sind wir hier". Auch sein Trainer sprach von der "Mission, Weltmeister zu werden. Die hatten wir von Anfang an."

Marwijk, der frühere Dortmunder, hat Hollands Schönspielern Zielstrebigkeit und Diskretion beigebracht - mit Erfolg. Auch wenn es zuletzt im Kader wieder leichte Rückfälle in Eifersuchtsdebatten gab. Und auch wenn strenge Leute wie Cruyff den Oranje-Fußball 2010 nicht apart finden. Sollen sie reden, sagte van Marwijk, "heute haben wir gezeigt, dass wir phantastisch spielen können."

Das Spiel steckte voller Geschichten. Dunga, Brasiliens auf Ordnung fixierter Trainer, war beim bisher letzten WM- Sieg gegen Holland 1998 Kapitän. In der Mitte des Feldes traf Melo auf Mark van Bommel, Niederlande - wie beim 1:4 von Juventus Turin gegen den FC Bayern im Dezember '09. Zur Begrüßung grätschte Melo van Bommel (2.) auf eine Art und Weise von hinten um, dass van Bommel das Foul mit einem seiner eigenen hätte verwechseln können. Arjen Robben, FC Bayern, begegnete am rechten Flügel einem Bekannten aus dem Champions-League-Halbfinale gegen Lyon: Michel Bastos. Drei andere brasilianische Abwehrbeauftragte, Lúcio, Maicon und Torwart Cesar, waren dieselben, die Robben im Finale mit Inter Mailand besiegt hatten. Dabei war auch Snejider, der nun seine Klubkollegen aus der WM schmiss.

Absurd entblößte Abwehr

Die Musik spielte erst auf der anderen Seite, dort, wo den Niederländern in ihrer ohnehin als anfällig bewerteten Abwehr Joris Mathijsen fehlte. Der Verteidiger vom Hamburger SV hatte beim Aufwärmen Knieschmerzen angezeigt, Andre Oojer sprang ein. Doch Hollands Defensive hatte Schwimmstunde in der ersten Halbzeit. Dani Alves sprintete durch eine von hundert offenen Schnittstellen, seinen Querpass verwandelte Stürmer Robinho, aber der Linienrichter hob die Fahne. Brasilien war es egal, weil Robinho sofort wieder traf (10.), elegant mit dem Innenrist. Diesmal galt das Tor.

Ein feiner, aber banaler flacher Steilpass von Melo hatte die ganze defensive Zentrale Hollands durchtrennt. Pässe von mittlerer Streckenlänge sind zwar eine besonders Spezialität der Brasilianer. Aber dieser? Hätte nie in einem WM-Viertelfinale zum Ziel führen dürfen. Hollands Abwehr war geradezu absurd entblößt, dem Torschützen am nächsten stand im eigenen Strafraum: Robben.

Vorne rannte sich Robben anfangs oft fest, wie seine Angriffskollegen van Persie, Kuyt und Sneijder. Van der Vaart saß auf der Bank, weil Trainer van Marwijk nur für vier von fünf Offensivkünstlern Verwendung hat. Das Spiel war geprägt von kleinen Gemeinheiten, beide foulten herzhaft, und Brasiliens Bastos verarztete Robben, bis er wegen Gelb-Rot-Gefahr ausgetauscht wurde. Da stand es bereits 1:1, weil Brasilien das 2:0 verpasst hatte. Verteidiger Juan zielte zu hoch (29.), Kaka scheiterte mit sehenswertem Schlenzer an Torwart Stekelenburg (31.), Maicon traf das Außennetz (45.).

Irritierter Cesar

Alle Überlegenheit und, ja, Schönheit der brasilianischen ersten Halbzeit war dahin, als Melo einen Sneijder-Freistoß mit dem Hinterkopf ins eigene Tor lenkte und dabei Keeper Cesar so irritierte, dass der ein Loch in die frische Luft faustete. Brasilien mit neuer Abwehrstärke? Auch das sah plötzlich anders aus. Zwar meldeten Alves (61.) und Kaka (66.) die verschwundene Selecao mit guten Schussversuchen wieder im Spielbetrieb an, das 2:1 aber erzielte die Niederlande, wieder nach Standardsituation: Ecke Robben, Kopfball-Verlängerung Kuyt, Kopfball Sneijder, Tor, prima einstudiert.

Für Melo wurde es nun ein noch härterer Abend als damals in Turin. Er trat dem am Boden liegenden Robben, dem die Brasilianer wiederholt fauchend Fallsucht vorwarfen, auf den Oberschenkel - Rot (73.). In Unterzahl drängte Brasilien, ohne große Chancen zu kreieren. So jubelte Holland, und van Bommel und Robben erinnerte der Stil dieses Sieges an den FC Bayern: Nie aufgeben. Immer weiter. "Der mentale Aspekt war heute der wichtigste. Wir haben immer an uns geglaubt."

© SZ vom 03.07.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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