WM 2010:"Löw repräsentiert uns mehr"

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Kanzlerin Merkel sollte mit ihrem Kabinett auch mal einen Kreis bilden und sich einschwören, rät Sportphilosoph Gunter Gebauer. In Sachen Teamgeist sei die DFB-Elf der zerrütteten Koalition weit voraus. Ein Gespräch über das Massenphänomen Fußball in Zeiten der Krise.

Claudio Catuogno

SZ: Herr Gebauer, 84 Prozent der deutschen Fernsehzuschauer haben am Freitag das Spiel Deutschland gegen Serbien gesehen, die Wahlbeteiligung in Nordrhein-Westfalen lag kürzlich nur bei 52 Prozent. Sind Sie beunruhigt?

"Schland! Schland! Schland! Schland!" Der Fußball bringt die Deutschen zu Zehntausenden zusammen, wie hier beim Public Viewing in Berlin. Der Politik gelingt das eher selten, und wenn, dann haben die Menschen negative Beweggründe, um auf die Straße zu gehen. (Foto: getty)

Gebauer: Die deutsche Politik kann derzeit eben keinerlei positive Emotionen wecken. Es gibt kein Projekt, kein gemeinsames Ziel. Aber die Leute wollen etwas angeboten bekommen, sie wollen das Gefühl haben, dass sich etwas tut. Im Bezug auf die Nationalmannschaft haben sie diese Erwartung, egal, ob sie nun dynamisch aufspielt wie gegen Australien oder sich schwer tut wie gegen Serbien. Und es ist auch das Thema Jugend, das die Leute fasziniert. Sonst geht es doch immer um Rentner, Hartz-IV-Empfänger, um den Mittelstand. Und jetzt bemüht sich da plötzlich eine ganz jugendliche Gruppe, auf dem Platz die Probleme zu lösen, die sich ihr stellen.

SZ: Angesichts der Massen auf den Fanmeilen könnte man sagen: Wie Deutschland regiert wird, ist egal - wichtig ist, wie Deutschland trainiert wird.

Gebauer: Im Kern geht es um eine positive Repräsentation des eigenen Landes. Das fehlt den Menschen in der Politik. Der Bundespräsident ist weg, die Parteien repräsentieren kaum noch, und die Kanzlerin ist eine anti-emotionale Politikerin, die der Politik jede Sentimentalität auszutreiben versucht...

SZ: ... und da ist der Fußball der kleinste gemeinsame Nenner, der das Land noch zusammenhält?

Gebauer: Der Fußball hat sich in den letzten Jahren so entwickelt, dass er Antworten auf ganz verschiedene Sehnsüchte bietet. Er ist wie geschaffen für multiple Schauinteressen: Die einen schauen sich ein Spiel wegen der Dynamik an, die anderen, weil es ein Über- oder Unterlegenheitsverhältnis ausdrückt, die dritten, weil man schöne Männer sieht, die vierten, weil es ein Drama ist.

WM 2010: Deutsche Fans beim Serbien-Spiel
:Zeichensprache in Schwarz-Rot-Gold

Nicht nur Bundestrainer Joachim Löw musste wegen dem Vuvuzuela-Lärm bei der WM auf Gesten umstellen. Auch die Fans setzten deutliche Zeichen.

SZ: Die Euro-Krise wird fast gleichmütig hingenommen, während man sich den Kopf zerbricht: Haben wir eine Stürmer-Krise? Eine Abwehr-Krise?

"Auf dem Platz sehen wir das Gegenteil von dem, was wir in der Politik vorfinden": Sportphilosoph Gunter Gebauer. (Foto: Imago)

Gebauer: Das kann man nicht gegeneinander ausspielen. Die Finanzkrise hat sehr viele Menschen erschreckt. Die Frage ist nur, wie sich dieses Erschrecken äußert. Die Leute stürmen deshalb ja keine öffentlichen Plätze, sie machen keine Demonstrationen für eine Finanzmarktsteuer oder fordern die Abschaffung von Boni. Sie sind hilflos. Und sie horten ihr Geld. Die hohe Sparquote - das ist in diesem Fall die Massenbewegung.

SZ: Es gibt die Theorie, dass von erfolgreichen WM-Auftritten immer auch die Regierung profitiert.

Gebauer: Selbst wenn es ein erfolgreicher WM-Auftritt werden sollte - um daraus Kapital zu schlagen, ist die schwarz-gelbe Koalition wohl schon zu zerrüttet. Es kann sein, dass die Politik durch die Fokussierung auf den Fußball eine Verschnaufpause bekommt, um sich neu zu sortieren. Aber die Langzeitwirkung kann auch eine negative sein. Indem die deutsche Mannschaft in Südafrika Handlungsfähigkeit unter Beweis stellt, entsteht im Vergleich zur Regierungsmannschaft ein Dissonanzeffekt. Die Leute erkennen: Auf dem Platz sehen wir das Gegenteil von dem, was wir in der Politik vorfinden!

SZ: Wie sich die DFB-Spieler bei Miroslav Kloses Tor gegen Australien mitgefreut haben, war fast rührend.

Gebauer: Ja, das war die heilende Wirkung der Gruppe. Vielleicht sollten Angela Merkel und ihr Kabinett auch mal einen Kreis bilden und sich einschwören auf gemeinsame Aufgaben.

WM 2010: Deutsche Fußball-Mode
:Treffsicher gekleidet

Auf der Fanmeile und im Stadion kommt es auch auf die passende Kleidung an. Zumindest hier liegen die deutschen Fußball-Anhänger ganz weit vorne. Ein echter Klassiker ist in diesem Jahr wieder ziemlich oft zu sehen.

SZ: Nationalteams galten immer als Spiegel ihrer Zeit, man hat den knorrigen Bundestrainer Sepp Herberger mit dem Kanzler Adenauer verglichen, den liberalen Helmut Schön mit Willy Brandt.

Gebauer: Aber inzwischen hat man den Eindruck, dass eher der Bundestrainer unsere Gesellschaft repräsentiert als die Kanzlerin. Joachim Löw ist ja einer, der sehr zielgerichtet mit seiner Mannschaft kommuniziert, der ein Ensemblespieler ist, aber auch Stehvermögen hat. Wie er den Streit mit DFB-Präsident Theo Zwanziger durchgestanden hat, nötigt mir höchsten Respekt ab.

SZ: Es scheint ihm sozusagen völlig egal zu sein, ob er nach der WM wiedergewählt wird.

Gebauer: Ihn interessiert die Sache selbst. Da macht er keine Konzessionen. So eine Haltung mögen die Menschen.

SZ: Aber ist es wirklich der Fußball, der die Menschen auf den Fanmeilen derart in seinen Bann zieht? Wenn es bei einem Sängerwettstreit in Oslo plötzlich heißt: "Germany: twelve points", gerät das Land auch ins Taumeln.

Gebauer: Fußball ist für die wenigsten Leute nur Fußball. Man versucht, durch den Fußball ein Bild der Gemeinschaft zu erhalten, der man angehört. Das ist beim Eurovision Song Contest auch so gewesen. Da ist plötzlich eine junge, unbekümmerte Sängerin namens Lena, und man hat das Gefühl: Die kommt hier aus der Nachbarschaft.

SZ: Und den Eindruck haben Sie bei den DFB-Spielern auch?

Gebauer: Ähnlich. Da kommt ein Khedira, ein Badstuber, ein Özil, deren Namen viele vor einem halben Jahr noch kaum kannten, und man stellt fest: Das sind sympathische Typen, ihre Eltern kommen aus verschiedenen Ländern, aber sie alle haben das gleiche Ziel. Das kann der Zuschauer als emotionalen Profit auf seine eigene Gemeinschaft beziehen, indem er sich sagt: Wir haben in Deutschland ein riesiges Reservoir an Talenten - und wir haben sie offenbar mit den richtigen Aufgaben betraut, sei es beim Singen oder beim Fußballspielen.

© SZ vom 21.06.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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