WM 2010: Brasilien:Das Pferd und sein Begleiter

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Das Duo aus Leverkusen dominiert die WM: Lucio und Juan bilden das Herzstück der unüberwindlichen Abwehr Brasiliens. Während der eine immer noch Fluchtreflexe zeigt, hat der andere sein Bayer-Syndrom nach Italien mitgenommen.

Thomas Hummel, Johannesburg

Reiner Calmund ist nun eine Weile raus aus dem großen Fußballgeschäft. Er sitzt noch im Aufsichtsrat von Fortuna Düsseldorf, demnächst soll er Berater von Dynamo Dresden werden, doch unter dem Begriff großes Fußballgeschäft gehen die Düsseldorfer und die Dresdner nicht durch. In Leverkusen, da hat er als Manager und Geschäftsführer am großen Rad gedreht, bis er 2004 unter schummrigen Umständen aus dem Amt gedrängt wurde. Dennoch darf sich Reiner Calmund bei dieser Weltmeisterschaft immer noch bestätigt fühlen in seinem Fußballverstand. Zumindest wenn Brasilien spielt.

Juan (links) feiert seinen Treffer im Achtelfinale zwischen Brasilien und Chile - verfolgt von seinem Abwehrpartner Lucio. (Foto: ap)

Am Montagabend im Achtelfinale im Ellis Park gegen Chile verdeutlichte Brasilien, dass es wie kaum ein Brasilien zuvor Wert auf defensive Ordnung legt. Ein Brasilien, in dem der Trainer Dunga seine Verteidiger schätzt, wie vielleicht noch nie ein brasilianischer Trainer. 3:0 hieß es am Ende, dabei haben die tapferen Chilenen gar nicht schlecht nach vorne gespielt, waren trickreich und versuchten sich in schnellen Kombinationen. Aber es war kein Durchkommen. Brasiliens Abwehr stand felsenfest, wie immer bei dieser WM.

Umtriebiger Beraterstamm

Das Herz der Verteidigung bildet ein Duo aus Leverkusen. Zumindest eines, dass sich dort fand. Bei Bayer 04 haben sich die Innenverteidiger Lucio und Juan kennen- und schätzen gelernt, beide wurden Anfang des Jahrzehnts von Calmund und seinem Team nach Deutschland geholt, als der Konzern noch viel Geld in die Mannschaft und einen umtriebigen Beraterstamm in Brasilien steckte. Leverkusen holt gerne junge Südamerikaner, die noch keine Wahnsinnssummen kosten. Nach ein paar Jahren Reifeprozess ziehen sie dann zumeist für Wahnsinnssummen weiter. Und so kam es, dass zwischen 2002 und 2004 die Anfangzwanziger Lucio aus Brasilia und Juan aus Rio de Janeiro in der BayArena verteidigten.

Schon damals wunderten sich die Beobachter über die zwei unterschiedlichen Charaktere. Der eine wirft sich mit Anlauf in die Zweikämpfe, neigt zu übertriebender Theatralik und wenn das Testosteron mit ihm durchgeht, dann begibt er sich mit ausladenden Arm- und Beinbewegungen auf einen wilden Ritt nach vorne. Der andere steht unauffällig auf dem Feld, regelt die Dinge mit klugem Stellungsspiel und hält sich immer an die taktischen Vorgaben des Trainers. Lucio und Juan sind ein ganz und gar ungleiches Paar und ergänzen sich vielleicht genau deshalb perfekt.

Favorit Nummer eins

Lucio sagte einmal in einem seiner wenigen Interviews: "Ich habe ein sehr gutes Verhältnis zu Juan, sowohl auf dem Platz als auch außerhalb. Mit ihm spiele ich sehr gerne zusammen." Im Ellis Park am Montagabend bestätigte der Partner: "Wir spielen sehr gut zusammen." Seit sechs Jahren bilden Lucio und Juan die Innenverteidigung der Seleção und haben in Südafrika maßgeblichen Anteil daran, dass Brasilien vor dem Viertelfinale wohl Favorit Nummer eins ist auf den Titel.

Die Abwehr scheint einfach unüberwindlich. Im Verbund mit Torwart Julio Cesar und den drei defensiven Mittelfeldspielern Gilberto Silva (eine Art Libero vor der Abwehr), Ramires und Dani Alves blockieren Lucio und Juan die Mitte vor dem Tor wie ein Bienenschwarm, der seine Königin verteidigt. Nur Nordkorea und die Elfenbeinküste trafen gegen die Seleção, aber erst, als die Partien schon entschieden waren.

Zu Hause, da huldigen sie traditionell den Angreifern, Abwehrspieler galten bislang als diejenigen, die für die Offensive nicht gut genug sind. Doch jetzt scheint der Verteidiger neue Anerkennung zu erfahren: "Früher hieß es 'Angriff ist die beste Verteidigung', nun heißt es 'Verteidigung ist der beste Angriff'", schrieb die Sportzeitung Globo Esporto und bezeichnete Lucio und Juan als "weltmeisterliches Duo".

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Mit seinem Kopfballtor zum 1:0 gegen Chile hat Juan auch noch vorne ausgeholfen und die Basis geschaffen für den anschließenden Konterfußball der Brasilianer. Auch Lucio traute sich bisweilen mal nach vorne, obwohl er inzwischen von seinen Trainern José Mourinho (Inter Mailand) und Dunga zu strikter Disziplin angehalten wird. Was ihm bisweilen merklich schwerfällt.

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Immer noch geht manchmal das heiße Gemüt mit dem 32-Jährigen durch. Dann nimmt er sich den Ball und rauscht nach vorne als wollte er wie einst Bud Spencer alleine die Gegner erlegen. "Lucio ist physisch topfit, ein richtiges Pferd", lobt Juan. Da war sie wieder, die Sache mit dem Pferd.

Unehrenhafte Abschiebung

Lucio, das Pferd, der Beiname verfolgt den Verteidiger seit Jahren. Und da Pferde bekanntlich Fluchttiere sind, neigt eben auch Lucio zu fluchtartigen Ausbrüchen über die Mittellinie. Wird er gestoppt, bisweilen auch mit einem Körperkontakt des Gegners, sinkt er zu Boden wie ein Pferd mit einer Kugel im Bein. Der englische Schiedsrichter Howard Webb hatte für Lucios Show am Montagabend allerdings überhaupt nichts übrig und beschied ihm, doch bitteschön wieder aufzustehen. Was Lucio dann auch, wenngleich schimpfend und klagend, tat.

Lucio und Juan spielen längst nicht mehr in Leverkusen. Juan hat sich, wie es seiner Person entspricht, leise verabschiedet und ging vor drei Jahren zum AS Rom. Er wurde dort mit Skepsis empfangen, wer ist schon Juan aus Leverkusen? Doch schnell galt er als einer der besten Verteidiger der Serie A, hat aber sein Platz-zwei-Syndrom aus Leverkusen mitgebracht. Sowohl 2008 wie auch 2010 verpasste er mit dem AS Rom am letzten Spieltag die Meisterschaft.

Diese gewann diesmal Lucio mit Inter Mailand. Und nicht nur das, auch dem Pokal und die Champions League holte er, Letztere im Finale gegen seinen alten Verein FC Bayern. Als Lucio vor einem Jahr für zehn Millionen Euro aus München weggelobt wurde, hat er, wie es seiner Person entspricht, geschimpft und geklagt über die seiner Ansicht nach unehrenhafte Abschiebung. Anschließend aber hat er sich mit seinen Leistungen revanchiert beim FC Bayern. Und die Münchner müssen vielleicht einsehen, dass sie damals den Kapitän eines künftigen Weltmeisters freiwillig abgegeben haben.

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