Tabellenführer RB Leipzig:Leipzigs Fußball ist ein organisiertes Überfallkommando

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Ralf Rangnick und seine Leipziger haben sich ihre eigene Variante vom Attacken-Fußball gebastelt. (Foto: Alex Grimm/Getty Images)
  • Das gab's noch nie: Erstmals bleibt mit RB ein Aufsteiger in den ersten elf Ligaspielen ungeschlagen.
  • Nach dem 3:2 in Leverkusen erlauben sich die Leipziger sogar Spitzen Richtung München.

Von Philipp Selldorf, Leverkusen

Wenn eine Mannschaft zweimal in Führung geht, am Ende aber trotzdem verliert, dann erfährt sie üblicherweise am nächsten Tag aus den Überschriften der Boulevardpresse, dass sie zu dumm, zu doof oder zu blöd gewesen sei, um zu gewinnen. Die Umstände, unter denen Bayer Leverkusen am Freitagabend 2:3 gegen RB Leipzig verloren hatte, ließen besonders drastische Schlagzeilen erwarten. Nicht nur, dass die Hausherren in der zweiten Hälfte beim Stand von 2:1 einen (ungerechtfertigten) Elfmeter verschossen, sie hatten aufgrund schwerer Verstöße gegen die guten Sitten des Defensivspiels auch die beiden Gegentore zu verantworten, die den Aufsteiger zum Sieger machten.

Das böse Urteil der Kritiker mussten die Leverkusener jedoch nicht mehr abwarten, das sprachen sie selbst aus. "Wir waren zu dumm, um die Führung richtig runterzuspielen", stellte Verteidiger Jonathan Tah fest. Dumm, dümmer und noch dümmer habe man sich verhalten, so lautete seine Zusammenfassung des Abends. "Warum sollte man sich selbst belügen?", sagte er, "man muss der Wahrheit immer ins Auge schauen."

Die bitterste dieser Wahrheiten bestand aus Leverkusener Sicht darin, dass die Niederlage nicht nur auf Hakan Calhanoglus vergebenen Elfer sowie den Blackout von Torwart Bernd Leno und seinen Vorderleuten beim 2:2 zurückzuführen war. Nein, es lag vielmehr an der konstanten Überlegenheit des Gegners. Diese konzedierte, indirekt, sogar der Bayer-Trainer Roger Schmidt, der selten ein Scheitern einzuräumen pflegt: Leipzig habe Leverkusens Fehler und Schwächen "ausgenutzt und sich den Sieg verdient", sagte er unter schwerem Seufzen, "wir haben gut gespielt, aber nicht gut genug".

Sein Kollege Ralph Hasenhüttl musste sich derweil beherrschen, nicht vor Stolz und Freude durch den Saal zu tanzen. Leipzig blieb ja nicht nur im elften Saisonspiel ungeschlagen - das ist noch keinem Aufsteiger in 53 Jahren Bundesliga gelungen. Der Konzernklub übernahm zumindest für 20 Stunden die Tabellenführung - vor einem gewissen Verein aus München. Hasenhüttl beruhigte sich, indem er dazu etwas Staatstragendes mitteilte: "Es tut der Liga gut, dass der FC Bayern erstmals seit Jahren als Zweiter zu einem Auswärtsspiel fährt."

Die Partie begann genau so, wie die Akteure es erwartet hatten. "Wir wussten, dass das Spiel turbulent werden könnte", berichtete Willi Orban, der RB-Kapitän und Schütze des 3:2 in der 81. Minute. Tatsächlich ging es so geschwind los, dass noch nicht jeder Spieler am Ball gewesen war, als es bereits 1:1 stand. Kampls Führungstreffer (2.) glich dessen Mitspieler Baumgartlinger mit einem Eigentor aus (4.). Dafür konnte man ihm im Prinzip keinen Vorwurf machen, es war ein Unglück, aber der Mittelfeld-Zweikämpfer Baumgartlinger gab auch sonst keine geeignete Figur ab, er schien dem irrwitzigen Tempo des Leipziger Spiels nicht standhalten zu können. Im Laufe der zweiten Halbzeit kamen etliche Leverkusener dazu, denen es ähnlich erging, vorneweg der stark nachlassende Abwehrchef Ömer Toprak.

Es ist keine Beleidigung, den Leipziger Fußball als gewaltsam zu bezeichnen, er entspricht einem organisierten Überfallkommando. Da die Leverkusener eine artverwandte Variante aufführen, sahen die Zuschauer während der ersten Hälfte ein Spiel, das eher dem Verkehrsfunk glich als einer Sportveranstaltung: Rund um den Ball herrschte extrem hohes Verkehrsaufkommen, bei permanenten Geschwindigkeitsüberschreitungen häuften sich Unfälle und Karambolagen, alle paar Minuten musste der medizinische Notdienst ausrücken.

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Leverkusens Wendell und Leipzigs Sabitzer schafften es noch mittels Kopfverbänden, die Folgen ihre Kollision auf dem Platz zu überstehen. Compper hingegen musste nach einem Zusammenprall mit mehreren Bayer-Profis vom Feld humpeln. Später traf es auch den guten Calhanoglu, dem Keita einen brutalen Tritt gegen das Schienbein verpasste. Insgesamt sah die Partie aus, als wären hyperaktive Kräfte entfesselt worden. Beim Betrachter kam Sehnsucht nach Ruhe und Gelassenheit und eleganten Beckenbauer-Pässen auf.

Ansehnlicher wurde das nervöse Geschehen, als die Kräfte ein wenig nachließen und die Spieler nicht mehr ganz so bedingungslos jedem Ball hinterherhetzten. Die Rudelbildungen wurden seltener, gelegentlich kam sogar Pass-Spiel zustande. Auch in diesem Stadium entstand der Eindruck, dass Leipzig ein wenig wacher und zielbewusster agierte. Ein Grund bestand in Emil Forsbergs glänzendem Mittelfeldspiel, ein anderer in der einstudierten Leipziger Eigenschaft, bei jeder Gelegenheit ohne auch nur eine Millisekunde Zeitverlust mit einem steilen bzw. direkten Pass den Blitzkonter zu suchen.

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Beim 3:2 in Leverkusen zeigt sich die wahnsinnige Cleverness von RB. Bayer vergibt beste Chancen, der Aufsteiger jubelt über die Tabellenführung - ein unschöner Vorfall sorgt für Ärger.

Wäre Timo Werner nicht nur schnell, sondern auch ein starker Techniker, dann hätte RB vermutlich mehr Tore geschossen. So brauchte es ein Stück Glück, um in der 67. Minute zum Ausgleich zu kommen. Forsberg startete einen Sololauf in der eigenen Hälfte, und eine Leverkusener Abwehr in Überzahl ließ ihn bis zum Schuss gewähren. Dass dieser im Tor landete, das war Lenos Schuld, keine Frage. "So einen Schuss aus 25 Metern kann man auch mal halten", sagte Trainer Schmidt. Der Bundestorwarttrainer Andreas Köpke auf der Tribüne verbarg vor Entsetzen sein Gesicht in den Händen.

Aber dieses Tor war auch ein Zeichen der Leverkusener Überforderung. Von Kampls Fehlpass angefangen und von der Passivität, die im Mittelfeld im Angesicht von Forsbergs Lauf herrschte, bis hin zu Topraks Zögern und Zaudern, als es darum ging, den Angreifer zu stören. Es habe wiederholt "Fehler in den Umschaltsituationen" gegeben, gab Schmidt zu. Auch beim 3:2 machten die Leverkusener nicht alles richtig, das Tor fiel aber vor allem deshalb, weil die Leipziger es perfekt inszenierten.

Sie erzwangen mit Geschick Kampls Ballverlust, Forsberg schlug die perfekte Flanke, Orban setzte den perfekten Kopfball, es war ein Treffer, der folgerichtig wirkte. "Vielleicht waren sie in der zweiten Halbzeit noch mehr da, sie wollten das Spiel unbedingt gewinnen, und wir haben nachgelassen", sagte Nationalspieler Tah. Möglicherweise hatte dieser Siegeswille auch mit der Farbbeutel-Attacke auf den Mannschaftsbus zu tun, die ein paar Vermummte bei der Anreise der Gäste unternommen hatten. An Einigkeit und angewandter Motivation ist dieses Leipzig jedenfalls schwer zu überbieten.

RB-Kapitän Orban wurde später gefragt, ob die Mannschaft sich nun als Tabellenführer mit dem FC Bayern vergleiche. Dies wies er jedoch entschieden zurück. Nicht aus Gründen der Bescheidenheit, sondern aus purer Vernunft: "Das machen wir nicht, weil wir noch nie gegen die gespielt haben. Mit Bayern beschäftigen wir uns, wenn es im Dezember so weit ist." Klingt nicht nach Kleinmut. Roger Schmidt glaubt, dass der amtierende Meister und der Aufsteiger aus Sachsen ein Spitzenspiel bestreiten werden: "Ich sehe keinen Grund, warum Leipzig das nicht durchziehen sollte."

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