Frankreich im WM-Finale:Die zweite Chance der bunten "Bleus"

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  • Frankreich steht im WM-Finale - mit einer Mannschaft voller Einwanderer-Kinder.
  • Nach dem Weltmeistertitel 1998 glaubte Frankreich schon einmal, die Nationalelf hätte die Integrationsdebatte gelöst - doch der Rassismus kehrte zurück.
  • Jetzt könnten "Les Bleus" ihre zweite Chance erhalten.

Von Martin Schneider, Moskau

Es ist gerade einmal sieben Jahre her, da erklärte ein französischer Nationaltrainer die Schwarzen zum Problem. Laurent Blanc saß in einer Sitzung an einem Tisch mit Verbandsvertretern, es ging um Reformen nach der Blamage bei der WM 2010 in Südafrika und er sagte: "Wer sind die derzeit Großen, Robusten, Kräftigen? Die Schwarzen (...). Ich glaube, dass wir uns neu ausrichten müssen (...). Dass wir andere Kriterien haben müssen, unserer eigenen Kultur angepasst (...). Die Spanier haben mir gesagt: 'Wir haben keine Probleme. Wir haben keine Schwarzen.'"

Man weiß, dass Laurent Blanc das gesagt hat, weil es davon Tonbandaufnahmen gibt. Als es nicht mehr zu leugnen war, hat er seine Worte zugegeben und sich dafür entschuldigt. In der Sitzung wollte man außerdem eine Franzosen-Quotenregelung für Nachwuchsmannschaften festlegen. Wenn man Spieler mit doppelter Staatsangehörigkeit ausbilde, so die Argumentation, würden diese dann eventuell für ihre Heimatländer spielen. Deswegen müsse man darauf achten, mehr Franzosen zu trainieren. Blanc blieb zunächst im Amt.

"Black, blanc, beur" nannten sie die Weltmeister von 1998

Nun spielt die französische Nationalmannschaft in Moskau um den WM-Titel, und wenn der neue Trainer Didier Deschamps aufstellt, wie das alle erwarten, dann werden sehr viele Spieler spielen, die Blanc als Problem identifiziert hatte. Da wäre Samuel Umtiti, geboren in Kamerun, Paul Pogba, Sohn guineischer Eltern, Kylian Mbappé, Vater aus Kamerun, Mutter aus Algerien, N'Golo Kanté, Sohn malischer Eltern und Blaise Matuidi, Sohn angolanischer Eltern. Über die spanischen Wurzeln von Lucas Hernandez hätte Blanc wahrscheinlich hinweggesehen, aber vielleicht werden noch Corentin Tolisso, Vater aus Togo, oder Ousmane Dembélé, dessen Eltern aus Mali und Mauretanien stammen, eingewechselt. Und auf der Bank säßen dann immer noch Steve Mandanda, Presnel Kimpembe, Benjamin Mendy, Adil Rami, Djibril Sidibé, Steven Nzonzi und Nabil Fekir, die man nach der angedachten Quotenregelung wahrscheinlich nicht alle hätte mitnehmen können.

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Frankreich spielt mit einer Mannschaft aus Einwanderer-Kindern um den WM-Titel. Dieses WM-Finale ist auch das vorläufige Finale einer Diskussion über Integration und Nation, über Stolz und Rassismus und die Rolle der "Bleus" dabei; einer Diskussion über Frankreich und was es sein will. Die Debatte begann vor der WM 1998, sie hat bis heute nicht aufgehört, sie ist in ihrer Härte kaum vergleichbar. Man muss sich das ja nur mal vorstellen: Joachim Löw würde nun, da in Deutschland über Özil und Gündoğan gestritten wird, in einer DFB-Sitzung dafür plädieren, dass nur eine bestimmte Zahl an türkischstämmigen Spielern in der Nationalelf auflaufen sollte.

Auf dem Streaming-Portal Netflix gibt es eine Dokumentation, die diese Geschichte aufarbeitet. Sie heißt "Les Bleus - ein anderer Blick auf Frankreich" und wer sie sieht, erkennt erschreckende Parallelen zu Deutschland. Der Film beginnt nach Frankreichs Halbfinal-Aus bei der Europameisterschaft 1996. Zu dieser Zeit gewannen die Rechtspopulisten stark an Zustimmung. Ihr Vorsitzender, Jean-Marie Le Pen, sagte, es sei nicht richtig, Spieler aus dem Ausland anzuheuern und die Mannschaft als "französisch" zu bezeichnen, außerdem sollten die Spieler die Hymne mitsingen. Die Öffentlichkeit konzentrierte sich in ihren Schuldzuweisungen auf einen Spieler algerischer Herkunft, der im Halbfinale schwach war und die Hymne nicht mitsang. Der Spieler wurde damals noch im Flugzeug von England nach Frankreich zu den Schlagzeilen befragt. "Ich bin enttäuscht von mir und muss die Kritik annehmen. Aber alle sollten kritisiert werden, nicht nur ein Spieler", sagte Zinédine Zidane.

Trainer Aimé Jacquet hielt an seiner Nummer zehn fest, er stellte Lillian Thuram und Marcel Dessailly auf, Patrick Viera war dabei, der junge Thierry Henry. Mit einer Mannschaft, die aus Spielern bestand, die man "black, blanc, beur" nannte, wurde Frankreich Weltmeister im eigenen Land. "Black, blanc, beur", das war eine Kunst-Konstruktion aus Wörtern, die es in der französischen Sprache nicht gibt (Schwarz heißt eigentlich "noir"), aber es sollte in Anlehnung an die Nationalfarben ("bleu, blanc, rouge") ausdrücken, dass Schwarze, Weiße und Araber zusammen für Frankreich die Besten der Welt sein können und dass Menschen verschiedenster Herkunft zusammen alles erreichen können, nicht nur auf dem Fußballplatz. Das redete sich Frankreich mit dem WM-Pokal in der Hand ein. Heute weiß man, dass es eine Illusion war. Es war ein Vorwand, unter dem man sich vorgaukeln konnte, es sei doch alles gut.

2001 trat Frankreich gegen die ehemalige Kolonie Algerien im Stade de France an, es war ein hoch politisches Freundschaftsspiel, beide Länder hatten im Algerien-Krieg gegeneinander gekämpft. Die Algerier waren in der Überzahl im Stadion, sie pfiffen die Marseillaise aus. Als Frankreich in der 78. Minute 4:1 führte, liefen einige auf den Rasen - sie griffen keine Spieler an, aber der Schiedsrichter musste das Spiel abbrechen. Auf den Aufnahmen sieht man einen wütenden Thuram, der sich später mehr als jeder andere Spieler Frankreichs gegen Rassismus einsetzen sollte. Thuram schrie die Leute an. Er habe den Platzstürmern gesagt, ob sie nicht wüssten, welchen Schaden sie anrichten, erzählte er später. Frankreich spielte nie wieder gegen Algerien. In den Statistiken des Weltfußballs steht bis heute: Länderspiele Algerien-Frankreich: 1. Ergebnis: -

2005 brannten in Paris die Banlieues, die Vororte, in denen hauptsächlich Menschen mit Wurzeln außerhalb Frankreichs lebten. Der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy bezeichnete Jugendliche als "Gesindel" und "Taugenichtse" und meinte, dass man "die ganzen Banlieues mit einem Hochdruckreiniger von diesen Menschen reinigen müsste". Thuram, der Weltmeister, sieben Jahre zuvor als Symbol für Integration gefeiert, antwortete dem Präsidenten, dass er auch aus so einem Vorort komme und sich angesprochen fühle. Zu diesem Zeitpunkt lebte in einem der Pariser Banlieus, die Sarkozy "reinigen" wollte, übrigens ein siebenjähriger Junge namens Kylian Mbappé.

2010 erreichte die Beziehung der Franzosen zu ihrer Nationalmannschaft den Tiefpunkt. Die integrative Kraft des 1998er-Triumphes war schon geschwunden, als die Mannschaft im Quartier in Kynsna streikte. Der Verbandspräsident schmiss den Spieler Nicolas Anelka aus dem Kader, nachdem der Trainer Raymond Domenech beleidigt hatte - aber das Team solidarisierte sich mit dem Stürmer und weigerte sich, zu trainieren. Domenech las live im französischen Fernsehen einen Brief vor, in dem die Mannschaft den Streik erklärte. Nach dem Desaster samt Vorrunden-Aus diskutierte Frankreich wieder: Wie sehr identifizierten sich diese Spieler wirklich mit Frankreich? Der Philosoph Alain Finkielkraut erkannte einen "Sieg der Unkultur der Vorstädte". Anelka sagte später: "Wenn wir nicht gewinnen, spricht man in Frankreich direkt von Religion und Hautfarbe. Dann ist Ribéry der Moslem." 1998 war vergessen.

(Foto: SZ-Grafik)

Wer sich die Debatten und die Wortwahl anschaut, der muss nur 1998 mit 2014, 2010 mit 2018 und "schwarz" durch "türkischstämmig" ersetzen - und bekommt die Diskussion, die Deutschland nun führt.

Die Rechtspopulisten sind stark, Jean-Marie heißt jetzt Marine Le Pen

Anelkas Einschätzung sollte sich bestätigen. Die Sitzung, in der der neue Nationaltrainer Laurent Blanc die "Schwarzen" als Problem identifizierte, Quoten-Regelungen für Weiße forderte und unter anderem auch das Halal-Buffet für Nationalspieler abschaffte, folgten unmittelbar nach dem Aus in Südafrika. Blanc musste nach der erneut erfolglosen Europameisterschaft 2012 gehen. Didier Deschamps, der Kapitän der Weltmeistermannschaft 1998, übernahm. Er führte unter anderem das Halal-Buffet wieder ein.

Nun steckt Frankreich wieder in einer Situation wie vor zwanzig Jahren. Die Rechtspopulisten sind stark, Jean-Marie heißt jetzt Marine Le Pen (die sich zur Nationalmannschaft allerdings quasi nicht äußert) und die WM findet drei Jahre nach großen Terroranschlägen statt (1995 auf die Pariser Métro, 2015 in der Innenstadt von Paris). Anschläge, die sich auch gegen die französische Nationalmannschaft richteten. Das Stade de France war beim Spiel gegen Deutschland das Ziel der Terroristen, die Schwester von Antoine Griezmann entkam im Nachtklub Bataclan nur knapp dem Tod, eine Cousine des damaligen französischen Spielers Lassana Diarra zählte zu den Todesopfern.

Frankreich muss damit im Jahr 2018 klarkommen: Dass Terroristen aus den Vorstädten ihr Land angreifen und Fußballer aus den Vorstädten für ihr Land Tore schießen. Vor zwanzig Jahren dachte die Nation, man sei mit dem WM-Titel einer bunten französischen Mannschaft am Ziel. Das war eine falsche Hoffnung. Aber vielleicht bekommt die Grande Nation ja noch eine Chance.

© SZ vom 15.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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