Spaniens WM-Aus:Sturz des überforderten Hegemons

Spain v Chile: Group B - 2014 FIFA World Cup Brazil

Ende der Brasilien-Reise: Javi Martinez und Sergio Ramos

(Foto: Getty Images)

Nie gesehene Fehlpässe, böse Fouls, körperliche Überforderung: Weltmeister Spanien verliert krachend gegen Chile - und fliegt viel zu früh von Brasilien aus in den Urlaub. Noch im Maracanã-Stadion beginnt die Debatte, wie es weitergehen soll mit den ehemaligen Helden.

Von Thomas Hummel, Natal

Wie wohl Joachim Löw diesen Schlag aufnimmt? Die großen Spanier, sein Vorbild, sie sind raus. Hat er sie nicht stets mit Wonne beobachtet, sie analysiert und beobachtet, wie das geht: absolute Spielkontrolle, den Zufall des Spiels reduzieren, die Titel abräumen. Erst kürzlich war der Bundestrainer befragt worden, ob der Titelverteidiger seinen Zenit überschritten habe. "Diese Meinung teile ich keineswegs", hatte Löw erklärt, "ich glaube, dass die Spanier den Hunger haben, den Titel zu verteidigen. Die Qualität des spanischen Fußballs, von den einzelnen Spielern, ist extrem hoch."

Dem Bundestrainer zu widersprechen ist selbstredend keine Option - und so ganz unrecht hatte Joachim Löw mit seinen Ausführungen ja auch keineswegs. Dennoch sind diese extrem hoch qualifizierten Spieler die ersten, die von der WM in Brasilien aus in den Urlaub fliegen. Spanien, der Hegemon im Weltfußball der vergangenen sechs Jahre, hat seine ersten zwei Partien krachend verloren und scheidet aus.

"Spanien war die Titanic", titelte die Zeitung El País, laut Mundo Deportivo verabschiedet sich die Mannschaft "durch die Hintertür": Das Sportblatt Marca schrieb: "Zerschmettert! - Vom Himmel in die Hölle. Es war schön, aber im Leben ist alles irgendwann vorbei."

Der Titelverteidiger war nach dem desaströsen 1:5 gegen die Niederlande erheblich unter Druck gestanden. Gegen Chile musste ein Sieg her, um in Gruppe B noch Aussicht auf das Achtelfinale zu haben. Selbst ein Unentschieden wäre ob des schlechten Torverhältnisses wohl zu wenig gewesen. Von wegen Sieg! Spanien erlebte sein Maracanazo. In Brasilien wird mit diesem Wort an die völlig unterwartete Niederlage im letzten WM-Spiel 1950 in Rio gegen Uruguay und dem dadurch verlorenen Titel gedacht. Nun also wieder Maracanã, diesmal hat es Spanien erwischt.

Schon nach dem Holland-Debakel hatte die Fußballwelt diskutiert, ob denn nun die Ära der unbesiegbaren Xavi-Generation vorbei ist. Und ob Vicente del Bosque die Mannschaft umstellen würde, um noch irgendwie das Turnier zu retten. Nun, der Trainer rang sich zu zwei Änderungen durch: Javi Martínez vom FC Bayern rückte für Gerard Piqué in die Abwehr. Pedro Rodriguez ersetzte Xavi Hernández. Tatsächlich: Der geniale Xavi, das Hirn und Herz der Passmaschine, saß auf der Ersatzbank. Vielleicht hatte der 34-Jährige selbst erkannt, dass er für den Power-Fußball dieser Gegner nicht mehr geschaffen ist.

Doch del Bosque hätte noch viel mehr verändern müssen, hätte er gegen diese Chilenen eine Chance haben wollen. Bisweilen sah es wieder ganz nett und manchmal sogar zielstrebig aus, was die Spanier boten. Doch gegen die ständigen Attacken der Chilenen wirkten einige körperlich überfordert. Die Saison in Spanien war lang gewesen, Real und Atlético standen im Champions-League-Finale, einige Profis wirkten ausgelaugt. Vor allem Xabi Alonso, 32-jähriger Mittelfeld-Papa von Real Madrid. Das 0:1 leitete er mit einem Fehlpass ein, er zeigte nie gesehene Zuspielfehler, schlug Freistoß-Flanken ins Nirgendwo und foulte einmal böse seinen Gegenspieler Isla. Seine Auswechslung in der Halbzeit war überfällig, sie kam zu spät.

Patzer der Helden vergangener Tage

Spain v Chile: Group B - 2014 FIFA World Cup Brazil

Ständig attackiert: Sergio Busquets

(Foto: Getty Images)

Weitere Helden vergangener Jahre patzten: Sergio Busquets schoss am leeren Tor vorbei, Andres Iniesta verdribbelte sich und Iker Casillas sollte sich anschließend gar bei den Fans zu Hause entschuldigen. Einen Freistoß von Alexis Sánchez boxte der Torwart so ungeschickt nach vorne, dass Charles Aránguiz im Nachschuss das 2:0 erzielen durfte. Schon gegen die Niederlande war er an zwei Gegentoren beteiligt gewesen. "Diese Mannschaft hat das nicht verdient", erklärte Casillas, "aber das ist eine Weltmeisterschaft: Wenn du kein Glück hast und schlecht spielst, dann kann das passieren."

Gegen die defensiv gut eingestellten Niederländer sowie die Pressing- und Zweikampfmaschine aus Chile offenbarten sich zudem Schwächen in der Spielanlage. Im Mittelfeld passten sich die Spanier brav den Ball zu, versuchten im Zentrum des Platzes eine Überzahl zu schaffen. Das ging jedoch erheblich auf Kosten der eigenen Torgefahr, weil vorne nur Diego Costa stand. Was gegen die chilenische Abwehr zu wenig war.

Noch im Estádio do Maracanã begann die Debatte, wie es nun weitergehen soll mit all den Ex-Helden. Was wird aus Xavi und Xabi Alonso? David Villa, Casillas und Iniesta sind über 30. Es ist ja nicht so, als mangle es dem spanischen Fußball an Nachkommen: Der derzeit verletzte Thiago vom FC Bayern, der seltsamerweise nicht nominierte Isco von Real Madrid oder der spät eingewechselte Koke von Atlético warten auf die Übernahme.

Del Bosque wirkte kurz nach dem Spiel gefasst, aber auch überrumpelt von den Ereignissen. Sowas hätte er wohl nicht für möglich gehalten. Fragen zur Zukunft? "Das will ich jetzt nicht beantworten. Ich muss erst nachdenken, was heute passiert ist." Das Team sei gut, sei fit, dennoch "müssen wir darüber nachdenken, was das Beste für den spanischen Fußball ist." Das betreffe auch seine Person.

Für sich geltend machen kann del Bosque, dass seine Mannschaft in einer fast bösartigen Gruppe scheiterte. Zuerst war sie Robin van Persie und Arjen Robben im Konterspiel van Gaals ausgesetzt gewesen. Nun kamen die Chilenen, mit denen auch Joachim Löw beim Testspiel im März (1:0) seine Erfahrung gemacht hatte. Löw hätte seine Vorbilder diesmal warnen können, ein Anruf hätte genügt. Vicente, passt auf, die Chilenen rennen wie verrückt, sind dynamisch, entschlossen, schnell und kraftvoll. Haben zudem Könner wie den überragenden Alexis Sánchez dabei - wobei, das hätten die Spanier selbst wissen können, spielt der Stürmer doch in Barcelona.

Dieses Chile hat zum ersten Mal in seiner Fußballgeschichte den europäischen Bruder Spanien besiegt. Es ist die vielleicht beste Mannschaft des Landes in seiner Historie. Nach dem Schlusspfiff schwelgten die Sieger in Träumen: "Vom Kopf her, von der Mentalität her, können wir Weltmeister werden", sagte Sánchez und Kollege Arturo Vidal ergänzte: "Wir wollen Weltmeister werden."

Nun geht es gegen die Niederlande um den Sieg in Gruppe B, dazu benötigen die Südamerikaner einen Erfolg. Schaffen sie das nicht, geht es im Achtelfinale wohl gegen Gastgeber Brasilien. Im Hinblick auf diese Aufgaben sagte Trainer Jorge Sampaoli einen passenden Satz: "Ich denke, der größte Sieg ist immer der nächste."

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