Sieg der DFB-Elf gegen Frankreich:Elf Kakteen in der Grillbude

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Mit rotem Kopf ins Halbfinale - Philipp Lahm jubelt mit Bastian Schweinsteiger. (Foto: AFP)

Nach dem frühen Tor fährt die deutsche Nationalmannschaft im Viertelfinale ihre Dornen aus und nimmt den Franzosen in der Hitze des Maracanã-Stadions den Spaß am Spiel. Die Glückseligkeit über den Einzug ins Halbfinale endet aber bereits in der Kabine.

Von Thomas Hummel, Rio de Janeiro

Der Kaktus hat eine weite Reise hinter sich. Die Azteken nutzten die Dornenpflanze, um ihren Göttern Opfer zu bringen. In Deutschland gibt es seit 122 Jahren eine Kakteengesellschaft, berühmt wurde der Kaktus im Land aber erst durch die Zeichentrick-Serie "Die schnellste Maus von Mexiko". Eine Weile lang hatte jeder Vegetarier zu Hause einen am Fensterbrett stehen. Dann geriet er ein wenig in Vergessenheit.

Jetzt erhielt er eine Huldigung, die seinen Stand in der Welt neu justiert: "Da merkt man erst mal, was für ein faszinierendes Gebilde ein Kaktus ist, da nicht einzugehen", sagte Thomas Müller. Der deutsche Angreifer sprach über die Temperaturen im Estádio do Maracanã an diesem frühen Freitagnachmittag und ging wie selbstverständlich davon aus, dass dieser Kaktus da unten auf dem Platz kein Problem gehabt hätte. Dabei berichtete er: "Es war wie in einer Grillbude."

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Von Claudio Catuogno und Philipp Selldorf, Rio de Janeiro

Nun ist es einerseits mutig, mitten in Brasilien das berühmte, nagelneu renovierte Maracanã eine "Grillbude" zu nennen. Andererseits hat Thomas Müller sich und seine Mitspieler damit selbst zum Kaktus ernannt. Denn auch die deutsche Nationalmannschaft widerstand der urplötzlich aufkommenden Hitze in Rio de Janeiro, besiegte das zuvor so starke Frankreich mit einem schnöden 1:0 und zog ins Halbfinale der Fußball-Weltmeisterschaft ein.

Berti-Vogts-Gedächtnis-Feier auf dem Platz

Der Kaktus. Es könnte am Ende des Turniers eine gute Metapher sein für diese Mannschaft. Hin und wieder erschafft er eine bunte Blüte der Fußballkunst wie zu Beginn der WM gegen Portugal. Doch zumeist fährt er die Dornen aus, wehrt sich, pikst und sticht, und wer sich mit ihm anlegt, der erleidet Schmerzen.

Nach dem Spiel machten die zwei Party-Kakteen der Mannschaft, Manuel Neuer und Bastian Schweinsteiger, den deutschen Fans die Freude und begingen eine Berti-Vogts-Gedächtnis-Feier auf dem Platz. Sie stellten sich vor die Tribüne und machten die Welle mit dem Publikum. Nach allem, was überliefert ist, endete die Glückseligkeit allerdings mit dem Eintritt in den Umkleidetrakt.

"Wir haben in der Kabine gesagt: Es ist toll, wir sind wieder im Halbfinale. Aber wenn man da steht, will man mehr", erklärte Philipp Lahm. Die deutsche Nationalmannschaft steht zum vierten Mal in Serie unter den letzten Vier einer WM, ein einmaliger Erfolg. Jérôme Boateng berichtete: "Wir haben uns schon gefreut, gute Laune und so. Wir wissen trotzdem, dass noch nichts erreicht ist. Wir haben ein großes Ziel und darauf konzentrieren wir uns."

Dieses Viertelfinale beklagte den Umstand, dass es so schnell abgehakt war wie noch kein Viertelfinale zuvor. Auf dem schnellen Heimflug am Abend ins Campo Bahia erfuhren die Deutschen über das Radio, dass nun Gastgeber Brasilien wartet. Toni Kroos ahnte bereits: "Dann spielst du gegen ein ganzes Stadion, gegen ein ganzes Land."

Wenn nicht alles täuscht, haben die Deutschen keine Lust, sich davon am Dienstag in Belo Horizonte einschüchtern zu lassen. Sie haben es ja selbst erlebt, als sie als Gastgeber 2006 in Dortmund gegen widerborstige Italiener unterlagen. Jetzt soll es umgekehrt laufen. Die Mixtur, wie das geschehen soll, glauben die Spieler gefunden zu haben. Sie besteht aus den Zutaten Arbeit, Teamgeist und Glaube.

Kein Spieler vergaß auf diese Zutaten nach dem Spiel hinzuweisen. Beispiele? Thomas Müller: "Wenn wir so füreinander arbeiten, dann wird es ganz schwer, uns zu schlagen." Mats Hummels: "Alle arbeiten defensiv sehr hart." Toni Kroos: "Wir haben sehr gut dagegengehalten. Alle haben gut gearbeitet."

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Von Thomas Hummel, Rio de Janeiro

Die Spieler wiesen darauf hin, dass einer für den anderen da sei. Brauche einer Hilfe auf dem Platz, laufe der andere sofort ein paar Meter mehr. Per Mertesacker, der vor dem Spiel überraschend erfuhr, diesmal nicht zur ersten Elf zu gehören, reichte dafür als Erster den Kameraden die Wasserflaschen. Schließlich der Glaube daran, diesmal bis zum Ende zu gehen: "Er ist da, definitiv. Wir haben noch kein Spiel verloren. Unser Selbstvertrauen ist groß, sonst braucht man im Halbfinale nicht antreten", erklärte Lahm. Der Kapitän muss das auch sagen, denn die Zukunft könnte ja auch was anderes bringen, etwas Gewohntes. "Ich brauch' nicht mehr um Platz drei spielen", sagte er. Ob er denn bei einer Niederlage im Halbfinale abreisen würde? "Kann sein." Es war halb im Scherz gesagt, und doch schwang eine Ernsthaftigkeit mit in Lahms Worten.

Hat die deutsche Nationalmannschaft vor vier Jahren das Land im Viertelfinale noch in einen Rausch versetzt durch ein 4:0 gegen Argentinien, ist das Team 2014 auf der Mission Effizienz. 1:0, in der Entstehung so banal wie Zähneputzen am Morgen: Freistoß, Kopfball, Tor. Toni Kroos schlug den Ball in den Strafraum, Mats Hummels setzte sich gegen Raphael Varane durch und verlängerte unter die Latte. Da waren gerade zwölf Minuten gespielt. Unter der Regie von Bundestrainer Joachim Löw galten solche Treffer lange Zeit als mindere Kunst, in Brasilien ist es schon der vierte Treffer nach einem ruhenden Ball. Löws Mannschaft ist die zusammen mit Brasilien gefährlichste nach Standardsituationen - wer hätte das gedacht.

Nur Klose mäkelt über "zu wenige Torchancen"

Der Rest war Widerstandsfähigkeit, den Franzosen auf die Nerven fallen, ihnen den Spaß am Spiel nehmen. Allein der von Beginn an spielende Stürmer Miroslav Klose mäkelte: "Wir haben zu wenige Torchancen kreiert."

Während einer Schwächephase nach der Pause kamen die Franzosen etwas auf, waren jedoch kaum in der Lage, durch den Schutzwall des Gegners zu schlüpfen. Sie schossen pro Halbzeit nur jeweils einmal auf das deutsche Tor. Mathieu Valbuena nach 34 Minuten und Karim Benzema in der Nachspielzeit, beide Male hielt Torwart Manuel Neuer. Vor allem bei Benzemas Knaller hielten die Deutschen den Atem an, doch Neuer lenkte den Ball mit dem Arm aus dem Tor. "Den muss ich halten", erklärte er später. Auf der anderen Seite hätte André Schürrle mit zwei Großchancen nach Kontern das Spiel längst entscheiden müssen.

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Von Thomas Hahn

Blieb die Hitze. Mehr als 30 Grad wurden gemessen, im Schatten. Unten brannte die Sonne auf den Rasen, die Gesichtsfarbe des hitzeempfindlichen Philipp Lahm näherte sich bald dem roten Bereich. "Uns hat man gesagt, nach der Vorrunde ist alles vorbei mit der Hitze. Jetzt laufen wir hier auf, und es war genauso wie im ersten Spiel", klagte er und mahnte "Redebedarf" an, vor allem mit den Ärzten "die uns hier was vorgegaukelt haben."

Letztlich blieb der Eindruck, dass die im Schnitt viel jüngeren Franzosen mit den Temperaturen noch mehr zu kämpfen hatten als ihre Gegner. Kein Wunder, wenn man gegen elf Kakteen spielt.

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