Schiedsrichter im WM-Halbfinale:Der Mann, der beidseitig zückt

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Bei ihm sitzen die Karten für gewöhnlich locker: Schiedsrichter Marco Rodríguez. (Foto: AFP)

Die DFB-Elf trifft im Halbfinale auch auf Marco Rodríguez: Der Referee gilt als überstreng, einmal zeigte er sogar zwei gelbe Karten gleichzeitig. Den Biss von Luis Suárez in der Gruppenphase hat er jedoch übersehen - bei den Deutschen weckt die Nominierung eines Mexikaners schlechte Erinnerungen.

Von Javier Cáceres, Belo Horizonte

Der mexikanische Schiedsrichter Marco Rodríguez, der das WM-Halbfinale zwischen Deutschland und Brasilien leiten soll, gilt als das, was man in der spanischsprachigen Fußballwelt einen tarjetero nennt: als ein Schiedsrichter mit einer überaus prononcierten Neigung, sich an die Brust- oder Gesäßtasche zu fassen und zu den dort befindlichen gelben oder roten Karten zu greifen. Beziehungsweise, wie man im Falle Rodríguez wohl genauer sagen müsste: zu Brust- und Gesäßtaschen. Im Plural.

Vor zweieinhalb Jahren musste Marco Rodríguez nach einem Meisterschaftsfinale in seiner Heimat gleich fünf Spiele aussetzen. Der Verband hatte ihm eine unabgesprochene Erfindung krummgenommen: die Synchron-Verwarnung.

Nach einem Foul hatte Rodríguez bei der Partie Los Tigres gegen Santos die beteiligten Spieler zu sich gerufen - und beiden aus Gründen der Zeitersparnis gleichzeitig eine gelbe Karte gezeigt. In der linken Hand hielt er dem Übeltäter den Karton für das grobe Spiel entgegen; in der rechten Hand hielt er eine zweite gelbe Karte, die dem eigentlichen Opfer galt, weil dieses nach dem Foul wilde mexikanische Flüche ausstieß.

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Doch das ist nicht der einzige Grund, weshalb es Rodríguez, 40, in Lateinamerika zu einiger Berühmtheit gebracht hat: Bei einem Spiel der Copa Libertadores zwischen Nacional Medellín und Nacional Montevideo stellte er nach nur 21 Sekunden einen Spieler vom Platz. Ein Rekord.

Für Rodríguez ist das Turnier in Brasilien schon die dritte WM. Im Jahr 2006 stahl ihm beim Spiel England gegen Paraguay noch der paraguayische Verteidiger Carlos Gamarra die Schau; bei der Partie Elfenbeinküste gegen Serbien-Montenegro war der Geltungsdrang von Rodríguez viel besser gestillt: Er stellte zwei Spieler vom Feld und durfte überdies zwei Mal auf den Elfmeterpunkt zeigen.

Auch in Südafrika durfte er wieder mit roten Karten wedeln, diesmal beim Spiel Spanien gegen Chile, wo Marco Estrada vom Platz gestellt wurde. Bei der WM in Brasilien hat er bislang zwei Vorrundenspiele geleitet, bei beiden Gelegenheiten sorgte er für Aufmerksamkeit: Im Spiel Belgien gegen Algerien fabrizierte er mit dem neuen Schiedsrichter-Spray so riesige Schaumberge, dass man meinen musste, er habe den frisch gemähten Rasen noch rasieren wollen. Und dann brannte er sich auch noch den Italienern ins Gedächtnis. Weil er in der Partie der Azzurri gegen Uruguay den Italiener Claudio Marchisio vom Platz stellte, den Beißer Luis Suárez aber auf dem Platz ließ.

Die Episode rund um Suárez bietet seither Anlass für tiefenpsychologische Studien. Der mexikanische Schriftsteller Juan Villoro äußerte die Vermutung, Rodríguez habe den Biss übersehen, weil dieser in Mexiko generell unsichtbar sei - wozu man wissen muss, dass Bestechungsgelder, die von allen möglichen Amtsträgern verlangt werden, in der nordamerikanischen Heimat des Schiedsrichters "mordidas" genannt werden: Bisse.

Zudem wäre es ein Leichtes, Rodríguez eine gewisse Grundsympathie für Beißer aller Art zu unterstellen. Er selbst wird in seiner Heimat Chiquidrácula genannt, Mini-Dracula, wegen einer nicht zu leugnenden Ähnlichkeit mit einer gleichnamigen mexikanischen Fernsehfigur aus den Achtzigerjahren.

Die wahrscheinlichste Variante bleibt aber, dass er den Biss tatsächlich übersehen hat. Erstens lässt er große Gelegenheiten, Karten zu zeigen, ungern aus. Zweitens mag er den Spitznamen Chiquidrácula gar nicht. Der Grund: Dracula sei ein Dämon gewesen, den er quasi von Berufs wegen ablehnen muss. Denn seit einigen Jahren hält Rodríguez im Auftrag einer evangelischen Glaubenskongregation Predigten. Er bat daher auch öffentlich darum, nicht Chiquidrácula genannt zu werden. Sondern Chiquimarco.

Seine Gottergebenheit ist im Übrigen relativ frisch, eine wichtige Rolle spielt dabei seine heutige Ehefrau. "Als ich sie sah, sagte ich zu mir: Was sie hat, das will ich auch haben." Das ist ernst gemeint, damit meinte er natürlich nicht Äußeres, sondern ihre Frömmigkeit.

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Sie habe ihn, sagte Rodriguez, dazu gebracht, alle Dinge zu meiden, denen er früher in seinem nach eigenen Angaben "schmutzigen Leben" zugesagt hatte: Von Spelunken, in denen Alkohol ausgeschenkt wird, bis hin zu Table-Dance-Bars waren, wie er selbst bekannt hat, alle "Orte, wo Gott beleidigt wird", dabei.

Aus Mexiko wird derweil den Fans der deutschen Nationalelf dringend geraten, alle Register abergläubischer Riten zu ziehen. 2006, als letztmals ein mexikanischer Schiedsrichter ein deutsches WM-Halbfinale leitete, siegte Italien gegen Deutschland - und zog ins Finale von Berlin ein, das es gegen Frankreich gewann. Zudem wird Chiquimarco in Mexiko unterstellt, ein Faible für den Kultklub América zu haben. Deren Spieler tragen schwefelgelbe Trikots - so wie Deutschlands Gegner Brasilien.

© SZ vom 08.07.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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