Sabine Lisicki in Wimbledon:Boxkampf ohne Deckung

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Grinsen, jubeln, Arme hoch: Sabine Lisicki in Wimbledon.  (Foto: AFP)

Was für ein Match, was für ein Erfolg: Sabine Lisicki bezwingt im Achtelfinale Serena Williams, weil sie fast genauso kraftvoll agiert wie die Favoritin. In London beginnt nun ein neues Turnier - Lisicki ist jetzt eine Favoritin.

Von Michael Neudecker, London

Wenn Sabine Lisicki in Wimbledon ein Match gewonnen hat, geht sie zurück auf den Court, sie lächelt, wirft allen vier Seiten je einen Handkuss zu und verneigt sich dann, es ist eine Art Ritual.

Dreimal hat sie das in der vergangenen Woche gemacht, sie ist bis ins Achtelfinale gekommen, dreimal lächeln, dreimal Handkuss, dreimal verbeugen. Am Montag hat sie es wieder getan, aber diesmal hatte sie dabei Tränen in den Augen, und als sie danach zu ihrem ersten Interview erschien, begann sie zu weinen.

Sabine Lisicki, 23, aus Berlin, Nummer 24 der Welt, hat am Montag das Viertelfinale in Wimbledon erreicht. Sie hat Serena Williams besiegt, die Nummer eins der Welt, 6:2, 1:6, 6:4, in 124 Minuten.

"Nur ein Mensch", so hat Sabine Lisicki vor diesem Match Serena Williams beschrieben, ein paar Leute haben da geschmunzelt. Serena Williams? Die Amerikanerin hatte bis Montag 34 Matches in Serie nicht mehr verloren; sie hat in ihrer Karriere fast 90 Prozent ihrer Matches auf Gras gewonnen, das ist natürlich der beste Wert aller aktiven Spielerinnen; und schließlich, noch so eine Zahl, sie hatte zuletzt 24 Sätze hintereinander gewonnen. Nur ein Mensch?

Ob es ein Schock gewesen wäre, eine ihre enttäuschendsten Niederlagen überhaupt, schließlich sei die Chance auf den erneuten Turniersieg nach dem Ausscheiden so vieler Spitzenspielerinnen dieses Mal so groß wie selten gewesen?

Serena Williams ist diese Frage mehrmals gestellt worden am späten Montagnachmittag, sie war irgendwann genervt. "Ich weiß ja nicht", sagte sie, "ob ihr schon mal davon gehört habt, aber Sabine ist eine exzellente Rasenspielerin. Vor allem in Wimbledon."

Sabine Lisicki spielt nirgends so gut wie im Wimbledon, so ist das seit Jahren, weshalb sie bei jeder Gelegenheit betont, wie sehr sie Wimbledon mag. Sie nennen sie hier "Doris Becker", und wenn jemand Williams jetzt noch aufhalten würde können, dann sie, das war oft zu hören am Montag.

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London erlebt die nächste riesige Überraschung: Im Achtelfinale von Wimbledon gelingt Sabine Lisicki gegen Serena Williams ein kaum für möglich gehaltener Sieg. Die Deutsche spielt in den entscheidenden Momenten ihr bestes Tennis - Tommy Haas verpasst gegen Djokovic das Viertelfinale.

Die Bilder des Spiels

Keine kann den Ball so hart schlagen wie Williams, nur eine kommt ihr in den Geschwindigkeitsmessungen nahe: Lisicki. Vor dem Match war das schnellste Service des Turniers einer von Williams' Aufschlägen, das Gerät hatte 197 km/h angezeigt, auf Rang zwei lag Lisicki, mit 196 km/h. Ein Festival der Aufschläge, das war es, was die Zuschauer am Montag erwarteten. Und natürlich am Ende einen Sieg der hohen Favoritin, trotz allem.

Das Match begann, Lisicki schlug auf, der Ball zischte, Williams berührte ihn noch, aber es reichte nicht. 1:0 nach vier Minuten, dann schlug Williams auf, der Ball raste, 1:1 nach sechs Minuten. Die Kraft, mit der beide sich die Bälle entgegendroschen, war beeindruckend, und je länger der erste Satz dauerte, desto mehr gelang es Lisicki, Williams mit ihrer peitschenhaften Vorhand unter Druck zu setzen.

Nach einer halben Stunde schaffte sie das erste Break. Die Menschen hier haben in der ersten Woche einiges erlebt; Außenseiter, die gewinnen, kommen an, und als Lisicki 4:2 in Führung ging, da jubelten die Menschen. Sie riefen "Come on Lisicki", es klang wie "Lasickey". Die Briten mögen Sabine Lisicki, seit sie vor zwei Jahren mit einer Wildcard ins Halbfinale stürmte.

Serena Williams schüttelte den Kopf, sie schimpfte, sie wirkte verunsichert. Es war ein Bild, das man lange nicht mehr gesehen hatte. Sie verlor Satz eins mit 2:6.

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Favoriten haben es traditionell schwer in Wimbledon. Doch die aktuelle Niederlagenserie ist bemerkenswert: Federer, Nadal, Tsonga, Scharapowa und Asarenka - für all diese Titelhoffnungen ist Wimbledon bereits vorbei. Für manche trägt der Rasen die Schuld.

Regel IV G der Tennisregeln besagt, dass zwischen den Sätzen 120 Sekunden Pause gemacht werden, höchstens. 120 Sekunden sind nicht viel, aber im Tennis genügt das, um alles zu verändern.

Als der zweite Satz begann, war Serena Williams wieder Serena Williams, sie trat auf, wie sie immer aufgetreten war in den vergangenen Monaten: dominant, sicher, unnachgiebig. Lisicki war nach jenen 120 Sekunden plötzlich eine andere, sie machte Fehler, spielte ohne Druck, und bald hatte Williams den zweiten Satz 6:1 gewonnen.

Es schien jetzt klar zu sein: Serena Williams würde sich nicht mehr aufhalten lassen, auch nicht von Sabine Lisicki.

120 Sekunden Pause, dann begann der dritte Satz, er begann so, wie alle am Centre Court es erwartet hatten: Williams schlug, punktete, 1:0, 2:0, 3:0, Williams ballte die Faust, wirkte ruhig. Lisicki haderte. Doch sie kam zurück.

Zuerst gelang ihr das Break zum 2:3, dann das Break zum 3:4, und das Match begann von vorne. Es war jetzt ein Match wie ein Boxkampf ohne Deckung, die Bälle flogen hin und her, Williams und Lisicki rannten, schlugen, rannten, mit jeder Minute spitzte sich der Zweikampf mehr zu, und den Zuschauern fiel es schwer, die beim Tennis übliche Ruhe zu bewahren.

Nach Lisickis Break zum 5:4 folgte schließlich das letzte Spiel dieser denkwürdigen Partie. Ein Return ins Netz von Williams, der erste Matchball für Lisicki, aber Williams kämpfte, sie wehrte ihn ab, hatte Breakball.

Ein Ass von Lisicki zum Einstand, ein weiterer Return von Williams ins Netz, Matchball Nummer zwei, noch mal ein längerer, alles abverlangender Ballwechsel, und dann, nach zwei Stunden und vier Minuten, schlug Sabine Lisicki den Ball mit der Vorhand so ins Feld, dass Williams keine Chance mehr hatte.

"Unglaublich", sagte sie, "phantastisch", dann ertrank ihre Stimme in den Tränen.

Die Emotionen seien eben einfach hochgekommen, erklärt sie später, als sie sich erholt hat. Sie hat nun kurioserweise zum vierten Mal in Serie in Wimbledon die amtierende French-Open-Siegerin bezwungen: 2009 Swetlana Kusnezowa, 2011 - nach einjähriger Absenz - Li Na, 2012 Maria Scharapowa, 2013 Serena Williams.

Aber dieser Sieg am Montag war noch größer als die anderen. Ob es gar der größte Sieg ihrer Karriere gewesen sei? "Ich denke schon", sagt Sabine Lisicki.

Aber es geht schnell weiter, am Dienstag spielt sie im Viertelfinale gegen Kaia Kanepi, eine 28-jährige Estin, die zuhause ein Star ist, ansonsten aber unbekannt. Diesmal ist Lisicki Favoritin, Kanepi ist 46. der Weltrangliste; aber was heißt das schon. Kaia Kanepi ist eine wuchtige Erscheinung, ihre größte Stärke ist ihr Aufschlag.

© SZ vom 02.07.2013/jbe - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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