Rugby-WM in Neuseeland:Angst vor der Bauchlandung

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Neuseeland ist verunsichert: Ausgerechnet vor der Rugby-WM im eigenen Land hat das Nationalteam zwei Spiele verloren. Dabei wird von den All Blacks nicht weniger als der erste Turniersieg seit mehr als zwei Jahrzehnten erwartet. Hinzu kommen ständige Provokationen der Gegner.

Sissi Stein-Abel

Wenn es um Sport und Spiel geht, sind Neuseeländer realitätsfern optimistisch bis zum bitteren Ende. Das liegt zum einen daran, dass den Leuten der Durchblick fehlt, wenn es nicht um die nationalen Vorlieben Rugby oder Cricket geht. Zum anderen jubeln die Medien mangels Masse an Klasse in dem von nur von nur 4,3 Millionen Menschen besiedelten Land jeden kleinen Erfolg hoch wie olympisches Gold und Silber.

Stets die großen Favoriten, aber seit 24 Jahren ohne Sieg bei einer WM: Die neuseeländischen All Blacks(Foto: dapd)

Das fängt an bei der Tennisspielerin Marina Erakovic, die bei großen Turnieren regelmäßig in der ersten Runde ausscheidet, und es hört beim alpinen Skifahrer Tim Cafe, der bei der vergangenen WM in Garmisch Dreiundvierzigster im Riesenslalom wurde, nicht auf. Bis sie vom Gegenteil überzeugt werden, glauben die Neuseeländer, dass ihr Mann oder ihre Frau gewinnt. Und manchmal siegen die ja tatsächlich bei Welttitelkämpfen wie zuletzt die Ruderer in Bled oder Kugelstoß-Walküre Valerie Adams in Daegu.

Doch ausgerechnet jetzt vor Anpfiff der Rugby-WM im eigenen Land haben die Neuseeländer das Knieschlottern bekommen, obwohl das in England erfundene Spiel hier seine spirituelle Heimat hat und die All Blacks, ihr Nationalteam, haushoher Favorit im Feld der 20 Mannschaften sind. Aber die beiden Stolperer in Südafrika und Australien zum Abschluss des Tri-Nations-Turniers haben bei den Fans leichte Panik ausgelöst. Die Quoten in den Wettbüros sind von 1,2 auf 1,5 gesunken - was bedeutet, dass sich ein Titelgewinn des Gastgebers, der das Eröffnungsspiel in Auckland am Freitag gegen Tonga bestreitet, für Zocker noch immer nicht wirklich lohnt.

Dahinter folgen Australien (5,0), Titelverteidiger Südafrika (9,0), der WM-Zweite England (11,0) und Frankreich (15,0), jener Angstgegner, der die All Blacks bei Weltmeisterschaften schon zweimal aus dem Wettbewerb geworfen hat, 1999 im Halbfinale und 2007 gar im Viertelfinale. Die Quoten sind das eine, die Statistik das andere. Denn so unglaublich es auch ist, weil Neuseeland seit vielen Jahren die beste Mannschaft der Welt ist und die erstmals 2003 aufgestellte Weltrangliste meist anführt (75 Prozent der Zeit): Die All Blacks haben den Webb-Ellis-Cup nur einmal in die Höhe gereckt, bei der ersten WM 1987 im eigenen Land.

Sie haben 1995 und 1999 mit Jonah Lomu, dem ersten Weltstar des Spiels mit dem Lederei, verloren und 2007 mit dem besten Team, das sie je hatten. Der Tenor: Wenn sie jetzt, 24 Jahre später, mit dem Heimvorteil bei der siebten Auflage nicht triumphieren, gewinnen sie nie wieder.

Die Konkurrenz ist noch immer überzeugt, dass sich die Gastgeber, die vor den beiden Tri-Nations-Pleiten eine Traumpartie nach der anderen hingelegt und 22 von 23 Spielen gewonnen hatten, auf dem Weg ins Finale am 23. Oktober nur selbst aufs Kreuz legen können. Genau das passierte vor vier Jahren bei der WM in Frankreich, als Trainer Graham Henry seinen Stars vorab wochenlang Spielverbot erteilte und während des Turniers in jeder Partie die Aufstellung umkrempelte. Mit diesem Konditionierungsprogramm und Rotationssystem kegelte er die besten All Blacks der Historie im WM-Viertelfinale gegen Frankreich aus dem Turnier.

Und es passierte auch zuletzt beim 20:25 in Australien, wo die All Blacks mit ihren Gedanken überall waren, bloß nicht im Suncorp-Stadion in Brisbane. Schon zuvor in Südafrika hatte es eine Abfuhr gegeben, aber die hatte keiner ernst genommen, denn Trainer Graham Henry hatte seinen Besten, allen voran Kapitän Richie McCaw und Mittelfeld-Zauberer Daniel Carter eine Auszeit gegönnt. Vermutlich dachte jeder, mit dem Top-Duo ginge es danach wieder von alleine - ein fataler Irrtum, der den Australiern, der jüngsten Mannschaft bei der WM, so richtig schön Rückenwind gab.

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Die All Blacks sind hinterher immerhin klüger. "Wir haben gelernt, dass es nicht reicht, einfach nur unsere Aufgaben zu erfüllen, sondern dass wir es mit Leidenschaft tun müssen", sagte McCaw. Spielmacher Carter ist überzeugt, dass der Schuss vor den Bug genau zur richtigen Zeit kam. "In der Vergangenheit", sagt Carter, "haben wir gezeigt, dass wir aus Niederlagen gestärkt hervorgehen."

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Das wissen auch die Rivalen. Deshalb haben sie sich längst darauf verlegt, die All Blacks mit Psychospielchen zu reizen. Für den ersten großen Aufruhr sorgte die Flut von schwarzen Hemden, die plötzlich die halbe Rugby-Welt trägt.

England, Wales sowie Neuseelands Gruppengegner Kanada und Japan präsentierten schwarze Alternativ-Trikots für die WM. Aber Schwarz, das weiß die ganze Welt, tragen die All Blacks seit Menschengedenken, daher auch der Spitzname, und Schwarz steht für mehr als Rugby. Schwarz ist die Farbe Neuseelands und seiner Menschen. Selbst Premierminister John Key erregte sich über den Hemden-Affront und nannte die Engländer "ein Team von Gernegroßen".

Dann beschuldigten die Engländer und Südafrikaner wie vor jedem wichtigen Spiel Richie McCaw, beim Breakdown zu betrügen, also beim Stopp nach einem Tackle zu verzögern. Auch darüber war die Nation empört. Neuseeländer betrügen nicht. Punkt. Zumindest nicht mehr als die anderen. All-Blacks-Held Sir Colin Meads, 75, setzte sich selber mit dem englischen Journalisten, der das schrieb, auseinander. Nur McCaw und seine Kollegen ließen sich nicht provozieren. "Sie sollen sich mal was Neues einfallen lassen", sagt der Kapitän cool.

Angesichts ihrer Dünnhäutigkeit forderte Kolumnist Richard Boock seine Landsleute auf, ihre Minderwertigkeitskomplexe, Kleinkariertheit und Egozentrik abzulegen und ihr Wohlbefinden nicht vom Erfolg ihrer Rugby-Stars abhängig zu machen. Aber das ist nicht so leicht. Denn es geht um Sein oder Nichtsein - Rugby ist Teil der Kultur und Identität.

Und auch wenn die Neuseeländer gerne gute Gastgeber sind und ihre Städte und Dörfer mit bunten Fähnchen aus aller Welt dekoriert haben, bleibt die Frage, ob sie auch dann noch in Partystimmung sind, wenn die All Blacks eine Bauchlandung hinlegen sollten. Zumindest dafür tragen die Leute schon mal die richtige Farbe.

© SZ vom 08.09.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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