Olympia 2016:Die Stadt Rio enthüllt die olympische Scheinwelt

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Kurz vor den Spielen in Rio de Janeiro fragen sich viele, ob es in diesem Jahr überhaupt eine heitere Sportveranstaltung geben wird. (Foto: Phil Noble/Reuters)

Eigentlich wäre Rio de Janeiro der ideale Austragungsort, aber die Spiele sind groß und widersprüchlich geworden, die alten Ideale nur noch Werbefassade. Es gibt keinen guten Platz mehr für Olympia.

Kommentar von Boris Herrmann

Der olympische Geist ist wahrscheinlich schon so oft für tot erklärt worden wie die Schallplatte, der Buchdruck und Fidel Castro zusammen. Die Wahrheit ist: Es geht ihm nicht besonders gut, aber er lebt noch. In Rio de Janeiro, wo am Freitag die Sommerspiele eröffnet wurden, sind seine vitalen Überreste im Morgengrauen zu bestaunen.

Für unzählige Bewohner dieser Stadt gehört es zur guten Gewohnheit, noch vor der Arbeit joggen, radeln, surfen oder skaten zu gehen. Sie stehen auch für Paddel- und Schwimmkurse im Atlantik früh auf, für ihren Fitnesstrainer am Strand, ihre Klettergruppe am Zuckerhut, für Beachvolleyball. In den Bolzplatzkäfigen wird ohnehin immer gekickt.

Ganz so, wie sich das Baron de Coubertin, der Erfinder der neuzeitlichen Spiele, einst ausgemalt hat, als er den Sport als die "ungehemmte Freiheit des Austobens" pries. In Rio ist in diesem Sinne jeden Tag Olympia. Und wenn die Olympischen Spiele 2016 noch den Geist Coubertins verkörpern würden, dann wäre diese Sportstadt zweifellos ein idealer Austragungsort.

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Rio, Stadt der Widersprüche

Diese Spiele sind heute aber so groß und widersprüchlich, dass es für sie keine idealen Orte mehr gibt. Coubertins Idee eines Treffens der Jugend der Welt zum fairen sportlichen Wettkampf existiert allenfalls noch als Werbefassade. Wobei die Altherren-Clique des Internationalen Olympischen Komitees zunehmend Schwierigkeiten hat, sie aufrecht zu erhalten.

Wenn der russische Sport des Staatsdopings überführt wird und trotzdem 271 Athleten nach Rio schicken darf, und wenn der Herr der Ringe, IOC-Präsident Thomas Bach, dazu erklärt, er habe ein "reines Gewissen", dann ist der Olympiageist endgültig auf der Intensivstation angelangt.

Rio ist eine Stadt, die freizügig wie keine andere ihre Widersprüche zur Schau stellt. Auch deshalb sind die Brüche in der olympischen Scheinwelt dort besonders offensichtlich. In den vergangenen Jahren wurden für den Bau von Sportstätten, die zweieinhalb Wochen lang gebraucht werden, 77 000 Menschen umgesiedelt. Und während die Schulen und Krankenhäuser verrotten, verdienen das IOC sowie die mit ihm verbrüderten Weltkonzerne Milliarden - steuerfrei.

So sind die Regeln in diesem Geschäft. Der Sport nimmt, der Ausrichter zahlt. Muss man sich noch wundern, dass sich gerade in den bürgerbewegten, westlichen Gesellschaften kaum noch Mehrheiten dafür finden, solche Festtage des Gigantismus zu organisieren? Zuletzt haben sich die Münchner wie die Hamburger dagegen ausgesprochen.

Bei der Vergabe von sportlichen Mega-Events geht der Trend seit Jahren in Richtung autokratischer Regime - Russland richtet nach den Winterspielen von 2014 auch die Fußball-WM 2018 aus, Katar ist 2022 dran. Verstärkt werden auch Weltregionen ausgesucht, die lange im Abseits der großen sportlichen Handelsströme lagen.

SZ-Grafik; Quelle: statista (Foto: SZ-Grafik)

Nach der ersten WM in Afrika 2010 beginnen jetzt also die ersten Sommerspiele in Südamerika. Das war natürlich als Aufbruchssignal gedacht. Der Slogan dieser Veranstaltung lautet nicht umsonst: "Um mundo novo", eine neue Welt.

Die Brasilianer haben diese Art von Weltverbesserung allerdings schon vor ihrer Fußball-WM vor zwei Jahren durchschaut, als Millionen gegen überteuerte Stadien protestierten. Auch zum Olympia-Auftakt ist die Grundstimmung pessimistisch: Knapp zwei Drittel der Menschen im Gastgeberland lehnen diese Spiele ab.

Spitzensportler werden Olympia retten

Vermutlich steht trotzdem ein rauschendes Fest bevor, auf das man sich auch freuen kann. Rio hatte nie ein Problem damit, auf Knopfdruck ein Spektakel zu inszenieren. Auf den Showeffekt von globalen Sporthelden wie dem Sprinter Usain Bolt, dem Schwimmer Michael Phelps oder dem Fußballer Neymar ist ohnehin Verlass. Egal wie es ausgeht: Es wird erstaunliche Rekorde und bittere Tränen geben. Dagegen ist nichts einzuwenden.

Dass der olympische Geist schwer kränkelt, heißt ja auch nicht, dass er überflüssig wäre. Gerade in diesen Zeiten, in denen die Welt vor Terrorrangst und Flüchtlingsdebatten kaum noch zum Durchatmen kommt, könnte der Sport seine eigentliche Stärke entfalten. In seinen besten Momenten erzeugt er mit kleinen Gesten große Symbole, die weltweit verstanden werden.

Ein solches Symbol ist die erstmalige Olympia-Teilnahme eines "Teams Refugee" mit Flüchtlingen aus Syrien, Kongo oder Südsudan. Ein noch viel größeres Symbol wäre es, wenn die Leichtathletin Julia Stepanowa doch noch eine Starterlaubnis für Rio bekäme. Sie hatte als Kronzeugin den russischen Dopingskandal aufgedeckt.

Mit der Begründung, dass sie auch selbst gedopt war, wurde sie vom IOC gesperrt. Ein Urteil des Internationalen Sportgerichtshof Cas bringt dieses weltweit kritisierte Argument auch rechtlich ins Wanken. Es wäre jetzt so einfach, diese Spiele mit einer großen Geste zu beginnen - mit der Entscheidung, dass Olympia nicht nur den Vertuschern gehört, sondern auch den Mutigen.

© SZ vom 06.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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