Olympische Lieblingsgeschichten:Verknallt ins herrliche Chaos

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Rucksäcke voller Heimtücke, vibrierende Tribünen und die Volunteers singen alle zusammen "Eisgekühlter Bommerlunder": Unsere Olympia-Berichterstatter erzählen ihre skurrilsten Geschichten von den Spielen in London - in denen es mal ausnahmsweise nicht um Sport geht. Also, fast nicht.

Wenn der Olympiareporter nach seiner Ankunft das Medien-Handbuch abholt, das ihn zwei Wochen lang durch den Dschungel der Wettbewerbe und Veranstaltungsorte lotsen soll, bekommt er noch einen Rucksack dazu. Nicht, weil man als Journalist seinen Laptop sonst unter dem Arm durch die Stadt tragen würde. Sondern weil die Olympia-Sponsoren in diesen Rucksack eine Menge unnützes Zeug hineinpacken können, kleine Notizblöcke, hässliche Mousepads, man kann das alles nicht brauchen. Wobei: Was ist denn das hier ganz unten? Eine Deo-Spraydose?

Enttäuschungen bei Olympia
:Abgehängt, verzockt, verstolpert

Wer zu Olympia fährt, will meist Medaillen gewinnen. Es kann jedoch auch ganz anders laufen: Ein chinesischer Sprinter erlebt ein Drama wie 2008, die deutschen Beckenschwimmer gehen völlig leer aus - und ganz Spanien muss lernen, wie es ist, im Fußball zu verlieren.

Die größten Olympia-Enttäuschungen

Das ist ja mal eine gute Idee! Man sitzt und steht ja immer dicht beieinander, auch jetzt schon wieder, auf der Pressetribüne im Aquatics Centre. Wie sie wohl riechen werden, diese Olympischen Spiele? Also: Kappe ab. Gut schütteln. Dann die Spraydose schön schräg in die Luft halten, die Nase bereit, ihn neugierig aufzusaugen, den Duft der Spiele 2012 ...

Zugegeben: Man hätte misstrauisch werden können. Und irgendwo im Unterbewusstsein ist tatsächlich die Andeutung eines Zweifels gewesen: Seit wann vertreibt die Firma Gillette Deodorant? Aber mit so einer Explosion hat wirklich niemand rechnen können. Eine so kleine Dose und dann eine so gewaltige Fontäne. Jedenfalls ist da jetzt nur noch dieser spitze Schrei, und dann sieht der Reporter aus Südkorea eine Reihe weiter vorne wirklich bemitleidenswert aus, so über und über mit Rasierschaum bedeckt. Wie in einem Sketch, wenn jemand eine Torte ins Gesicht gekriegt hat. Mit dem Unterschied, dass man jetzt besser nicht laut lachen sollte.

Der Koreaner hat die Entschuldigung angenommen, die Taschentücher auch, aber keine anderweitige Hilfe oder Entschädigung. "It's okay", sagte er. Eine Stunde lang ist der arme Mann dann auf der Pressetribüne gesessen und hat seinen Laptop gesäubert, jeden Buchstaben hat er einzeln aus der Tastatur gehebelt, grundgereinigt, wieder eingesetzt.

"I'm sorry!"

"It's okay."

Am nächsten Tag hat er sich wieder den Platz in der Reihe vor uns ausgesucht. Er nickte freundlich. Er sah müde aus, wie alle hier, der Ansatz eines Drei-Tage-Barts zeichnete sich in seinem Gesicht ab. Man kommt als Olympiareporter einfach nicht zum Rasieren.

(Claudio Catuogno)

Zielvorgaben für Olympia
:Wer wie viele Medaillen gewinnen sollte

Laut Zielvereinbarung des DOSB und der Fachverbände sollten deutsche Athleten bei den Olympischen Spielen in London 86 Medaillen holen. Einige Sportarten konnten die Erwartungen gar nicht erfüllen, andere scheiterten knapp. Im Überblick.

Wer sich zwei Wochen durch Olympische Spiele bewegt, begegnet vielen Botschaften. Inzwischen kommt fast jeder mit einem Slogan. "Wir für Deutschland" - das hatten sich die Deutschen vorgenommen. Die Schweizer versprachen: "We make it happen." Auch die Spiele als Ganzes standen unter einem Motto, es hieß: "Inspire a generation". Aber natürlich hat das nie einer gesagt, genauso wenig, wie je irgendeiner gerufen hat: "Wir für Deutschland!" Gerufen wurde in den Stadien immer nur: "Make some noise!" Lärm sollten die Besucher schlagen, irgendwelchen. Klatschen, kreischen, grölen, trampeln, pfeifen - alles erlaubt, alles sogar erwünscht.

"Make some noise!": Das war der wahre Slogan dieser Spiele. Beim Beachvolleyball war das zu hören, auf dem Paradeplatz der Horse Guards; die Stahlrohrtribünen, von denen aus das London Eye zu sehen war und die Spitze des Uhrenturms von Westminster, wackelten oft mächtig. Auch im Olympiapark lärmte es gewaltig, an den Hügeln, über die die BMX-Fahrer flogen. Der Krach gehört jetzt zu Olympia, und das nicht nur bei den ganz jungen Sportarten.

Auch am Dorney Lake in Eton, wo um die Wette gerudert und gepaddelt wurde: Die Schafe und Enten, die sonst ihre Ruhe haben rund um den künstlichen See, wurden vom lauten Besuch aufgeschreckt. Den Menschen gefällt der Lärm. Das Klatschen und Kreischen und Grölen und Trampeln - das steckt an, es zieht einen hinein in den Wettkampf. Je lauter es wird, desto mitreißender ist es. Eigentlich müssten die Stadionsprecher beim nächsten Mal rufen: "Make more noise!" Mehr, immer mehr! Oder?

Einen Ort gab es, an dem es ganz anders lief: die Schießhalle in den Royal Artillery Barracks in Greenwich. Die Schützen brauchen keinen Lärm, sie veranstalten ihn ja selbst. Für jeden Zuschauer gab es deshalb Ohropax: zwei Schaumstoffstücke in Neonorange für die Ohren. Mit denen war dann nicht mehr viel zu hören. Nur ein dumpfes Plopp, wenn ein Schuss fiel. Es war herrlich.

(René Hofmann)

Missgeschicke in London
:Olympische Pannenspiele

Erst ein Maßband rettet der deutschen Hammerwerferin Betty Heidler die Medaille, ein unterlegener Boxer wird zum Sieger erklärt, in Nordkorea sorgt eine Flagge des Nachbarlandes für mächtig viel Aufregung: Hochprofessionell geht es in London nicht immer zu. Die krassesten Fehlentscheidungen und Missgeschicke.

Saskia Aleythe

Gegen Ende der Spiele wollen die Athleten schon auch noch ein bisschen shoppen, sie müssen dazu vom Olympischen Dorf ein paar Meter gehen und eine Rolltreppe hoch, schon sind sie in John Lewis' riesigem Einkaufszentrum. Ein kurzer Weg, aber auch ein langer, denn inzwischen haben alle in der Stadt Wind davon gekriegt, wo man die Sportler abgreifen kann.

Zwischen Dorf und John Lewis müssen sie Autogramme schreiben und in sehr viele Kameras lächeln, das ist so eine Art moderner Wegzoll. Manchmal stecken sich die Helden ihre Akkreditierung in die Hosentasche, um unerkannt durchzukommen. Das klappt, wenn man ein kleiner Ringer ist. Ist man ein 2,06-Mann wie der Basketballer Andrey Kirilenko, Russland, läuft einem die versammelte Gemeinde trotzdem zwischen den Beinen herum.

Welch' wunderbare Wesen auf der Welt leben, Gewichtheber und Turnprinzessinnen, Riesinnen und Zwerge. Manche werden von den Autogrammsammlern erst mal auf Sammelwürdigkeit abgeklopft: Welchen Platz haben Sie belegt? In der Regel antworten die Sportler wahrheitsgemäß, sind halt alles ehrliche Burschen, allerdings der amerikanische Hürdenläufer Jeff Porter behauptete, er wäre Fünfter geworden, ging aber nicht näher darauf ein, dass er Fünfter nur im Halbfinale war, nach einem Lauf, in dem er fast sämtliche Hürden umgerannt hatte. Am Ende ist sowas eh egal.

Die Sammler waren begeistert, er macht sich auch gut auf den Fotos, und es wurde ein langer Nachmittag für ihn. Zwischen Dorf und John Lewis liefen jamaikanische Sprinter an ihm vorbei, iranische Gewichtheber, jordanische Läuferinnen, russische Turnerinnen, Menschen, Touristen, Tadschiken, Flaneure und Chronisten, die Sonne ging schon langsam unter. Aber Jeff Porter schrieb und schrieb und schrieb.

(Holger Gertz)

Rhythmische Sportgymnastik
:Den Kopf verdreht

Die Rhythmischen Sportgymnastinnen lassen den Beobachter bisweilen ratlos zurück. Haben diese Athletinnen wirklich alles, was Menschen brauchen? Im olympischen Finale zeigen die Athletinnen großartige Fertigkeiten - und verbiegen sich in alle Richtungen.

Diesem Discjockey vom Olympiastadion werden die Veranstalter hoffentlich ein Denkmal setzen, jetzt, da die Spiele vorbei sind. Denn was der Mann bei den Leichtathletik-Wettkämpfen aufgelegt hat, hat wirklich Spaß gemacht. Britpop ist das Stichwort, die hohe Kunst des Seichten. Fabelhaft, was es für einen Unterschied macht, wenn nicht "Griechischer Wein" (Leichtathletik-WM 2003 in Paris) oder irgendeine psychedelische Kaufhausmusik (Leichtathletik-EM 2012 in Helsinki) das Geschehen untermalt, sondern Adele, T. Rex oder The Ting Tings. Es kann jedenfalls sein, dass die eine oder andere Hammerwurf-Rezension unter rhythmischem Mitwippen oder gar Mitsummen entstanden ist.

Musik verwandelt Orte, das kann man in London sogar in den U-Bahn-Gängen erleben. Da stehen manchmal Stadtmusikanten im Strom der Passanten und spielen was für ein bisschen Kleingeld im Hut, und wenn's ein guter ist, eilt man irgendwie getröstet durchs Neonlicht. Oder bei den Spielen: Zuschauermassen marschierten durch den Olympiapark. Mittendrin stand ein Mädchen mit Zahnspange, ein zweites mit Gitarre, und zusammen schenkten sie freundliche Lieder her.

Oder eines Nachts auf der Heimfahrt: In der S-Bahn saßen Olympia-Volunteers. Sie sangen und klatschten dazu rhythmisch. Es war nicht in dem Sinne schön, aber es war ein Leben im Schnellzug, wie man es sonst nicht hat. Mit in den Zug stiegen auch zwei Deutsche. Ein nüchterner und ein betrunkener. Der nüchterne Deutsche hörte aufmerksam zu. Der betrunkene Deutsche musste aufpassen, dass es ihn bei der Anfahrt nicht hinlegte.

Die Volunteers hatten gerade ein Lied zu Ende gesungen und überlegten nun, was sie als nächstes vortragen sollten. Da stimmte der nüchterne Deutsche das Steigerlied an. "Glück auf, Glück auf, der Steiger kommt . . ." Aus voller Brust, text- und notensicher.

Die Volunteers waren zunächst etwas irritiert, dann klatschten sie rhythmisch mit und applaudierten, als der nüchterne Deutsche zu Ende gesungen hatten. Der betrunkene Deutsche lachte mit rosigen Wangen und entschuldigte sich, dass er das Steigerlied nicht kannte und deshalb nicht hatte mitsingen können ("Sch-scheißescheißescheiße"). Sie berieten sich kurz, was sie zusammen singen könnten, und verständigten sich. Allerdings auf "Eisgekühlter Bommerlunder" von den Toten Hosen.

Sie sangen das Lied aus vollem Hals und mit zunehmender Hingabe. Die Volunteers klatschten dazu, und schon war das ganze Abteil voll mit Gesang und Klatschen. Es war nicht in dem Sinne schön, es war sogar ausgesprochen scheußlich. Trotzdem hörte es sich irgendwie richtig an. Bald darauf hielt der Zug, und alle waren ein bisschen traurig, dass sie nicht zusammen weitersingen konnten.

(Thomas Hahn)

Olympische Schnappschüsse
:Tränen auf Tartan

Russische Formationen im Wasser, Versteckspiele auf der Ringermatte und schwebende Chinesinnen: Die Kameras halten bei diesen Spielen den ein oder anderen perfekten Augenblick ein. Britische Sportler sind dabei eines der Lieblingsmotive der Fotografen - nicht nur, weil sie sehr oft gewinnen.

Es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen Fußball und Olympia-Fußball. Beim Fußball stehen sich zwei verfeindete Stämme gegenüber, die Stimmung ist oft ein bisschen aggressiv. Beim Olympia-Fußball füllen Olympia-Fans das Stadion - froh, überhaupt ein Ticket für irgendeine Veranstaltung bekommen zu haben. Keiner flucht, keiner droht, und keiner stimmt die traditionellen Schlachtgesänge an. Beim Finale der Fußballfrauen im Wembley-Stadion, Japan gegen die Vereinigten Staaten, war La-Ola-Stimmung, die einen skandierten "Nippon", die anderen "USA", das war's so ziemlich.

Wer sich als regulärer Fußballfan hierher verlaufen hatte, fühlte sich irgendwie fremd. Jedenfalls schien es einem Engländer so zu gehen, der aussah, als feuere er sonst Millwall oder West Ham an, die Männermannschaft natürlich. Keins der Teams da unten lag ihm besonders am Herzen, aber weil man sich nun mal für eins entscheiden muss, schrie er auch "Nippon!!!", so laut, dass sich die anderen Zuschauer ganz verschreckt umsahen - vor allem solche, die sich die amerikanische Flagge ins Gesicht gemalt und paillettierte Stars-and-Stripes-Hüte aufgesetzt hatten.

Irgendwann war dem Engländer das alles zu kindergartenmäßig. Er wollte einen richtigen Fußballgesang, "here we go, here we go, here we go!", ahnte aber, dass keiner einstimmen würde.

Also holte er Luft, schaute kurz links und rechts, und sang: "Here I go, here I go, here I go!" Selbstironischer Solo-Fangesang. Wenn es nicht so fürchterlich abgedroschen wäre, müsste man wohl sagen: typisch englisch.

(Alexander Menden)

Olympische Spiele 2012
:Londons unvergessliche Momente

Wasserspringerin Wu Minxia erfährt nach der Siegerehrung, dass ihre Großeltern gestorben sind - bereits vor einem Jahr. Manteo Mitchell beendet die 400 Meter trotz Wadenbeinbruch und der lockere Usain Bolt wird für einen Augenblick ernst. Bei den Olympischen Spielen hat es beeindruckende Siege gegeben, aber auch unvergessliche Momente.

Wenn man einen richtigen Londoner ein paar Tage vor den Olympischen Spielen auf dieses Ereignis ansprach, dann zog er die Augenbrauen nach unten, er senkte den Blick und murmelte irgendetwas wie: "Olympia, hör' mir auf mit Olympia! Grummelgrummel! Verkehrchaos! Büro direkt neben der Reit-Arena, nur Olympic Lanes! Wie soll ich da hinkommen? Und wieder heim? Grummel!" Es wurde nicht besser.

Dieser Londoner, nennen wir ihn Joe Wreford, wollte sich die Eröffnungsfeier auf Großleinwänden im Hyde Park ansehen, doch das klappte nicht wie geplant, als murmelte er wieder: "Zwei Stunden anstehen, 20 Minuten aufs Bier warten. Grummelgrummel! Wenigstens mussten wir diese langweile Prozedur nicht sehen, wie die Sportler zwei Stunden lang in die Arena marschieren." Den Höhepunkt der Miesepetrigkeit gab es am Sonntagabend, das britische Team hatte noch keine Goldmedaille gewonnen: "Was für eine Schande! Jetzt verlieren wir da auch noch. Und morgen muss ich in die Arbeit, zwei Stunden eher aufstehen. Und zwei Stunden später heimkommen. Grummelgrummel!"

Doch dann passierte etwas, das wohl nur bei Olympia, in Träumen oder im Himmel passiert: Er fuhr in die Arbeit- und war schneller als sonst, weil seine U-Bahn-Linie nicht von Olympia-Besuchern frequentiert wurde. Am Abend brachte ihn ein Kollege mit dem Auto nach Hause, und weil dann meistens auch die Olympic Lanes geöffnet waren, kam er eher als je zuvor zu seiner Freundin. Dann gewann das britische Team die erste Goldmedaille. Und die zweite. Und die dritte. Joe bekam keine Medaille, dafür aber Tickets für ein Musical, das zuvor monatelang ausverkauft war, weil viele andere Londoner lieber in den Olympic Park als in einen Theatersaal gingen. Und abends im Pub, da traf er keine muffeligen Londoner, sondern gut gelaunte Menschen aus aller Welt.

Joe hat sich nicht nur angefreundet mit diesen Olympischen Spielen, er hat sich regelrecht verliebt. Er hat nur ein Problem: Er hat gerade erfahren, dass sie nun vorbei sind. Also zieht er die Augenbrauen nach unten, senkt den Blick und murmelt: "Wie vorbei? Also Verkehrschaos, volle Pubs und keine Eintrittskarten! Grummelgrummelgrummel . . ."

(Jürgen Schmieder)

Alle Olympiasieger
:Französisch zu Gold geworfen

Frankreich ist erneut Olympiasieger im Handball. Die US-Basketballer gewinnen gegen Spanien, Anthony Joshua macht die Briten zum erfolgreichsten Box-Volk. Der Tscheche Jaroslav Kulhavy sprintet mit dem Mountainbike knapp zu Gold, ein Ugander läuft den Kenianern im Marathon davon.

Gold-Gewinner

Hunger und Wut sind Empfindungen, die sich gegenseitig befruchten. Oft findet dieses Doppelpassspiel im Restaurant statt, auch bei den Olympischen Spielen, dem Treffen der Welt, dem Sinnbild der Verständigung, dem Muster der Friedfertigkeit, kann das passieren. Und zwar rasend schnell.

Hunger hat man durchaus mal bei Olym-pia, Essen passt nicht wirklich in den Zeitplan. In der North Greenwich Arena trafen sich die meisten Hungrigen bei einem US-Burger-Brater, der sympathisch wirkte, weil er zu keiner großen US-Burger-Kette zählte und kleine Preise hatte. Alles war wie im Film: Man suchte sich einen Tisch, bestellte und zahlte an der Theke, gab dem Koch über den Küchentresen seinen Bon, setzte sich und lauschte dem Hunger. Der Hunger sagte, er wolle ja nicht drängeln, aber . . ., und man sagte ihm, er solle sich setzen. Dann schlich jedoch von der Seite der Ärger hinzu, und dann meldete sich auch wieder der Hunger.

Am Nachbartisch links verspeiste eine Gruppe 17-Jähriger mehrstöckige Burger mit Pommes und Sauce, am Nachbartisch rechts setzte sich ein ferner Kollege mit Begleitung, bestellte, bezahlte und wartete. Weitere Burger wurden serviert, die 17-Jährigen links hatten es lustig und schon langsam einen Cola-Rausch, und die Wut sagte, wenn der Hunger brüllen darf, dann darf ich es auch. Darfst du nicht, sagt man da, aber dann bekam der Kollege, der viel viel später gekommen war, seinen Burger, den schönsten jemals gebratenen.

Die Wut ist lächerlich klein angesichts der Größe britischer Höflichkeit. "I apologise! My God, I apologise!" rief der Kellner und begleitete uns mit einer Salve aus Sorries zurück zum Tisch. Man ist verwirrt, man erwartet Diskussionen und dann so etwas. Sekunden später kam der schnellste jemals gebratene Burger ("Sorry again, Mister, I apologise") und er schmeckte wunderbar und hatte eine eigenartige, augenöffnende Wirkung: Die abweisende und offenbar blinde Bedienung hier war allein mit 30 Gästen, und der Burger-Brater selber stand offenbar den ganzen Abend im Fett-Dampf. Und er hatte nicht mal einen Stuhl, um sich zwischendurch kurz hinzusetzen.

Da hatte die Wut keine Chance mehr. Sie war schon winzig, als sie den entscheidenden Schlag erhielt. Der Kellner kam noch einmal, diesmal brachte er das Geld zurück, säuberlich abgezählt, in einem ein Schälchen. "Sorry", sagte er, "Excuse me! Apologise!"

(Volker Kreisl)

© SZ vom 13.08.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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