Özil bei der Fußball-WM:Zeit, das Genie rauszulassen

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Mesut Özil führt den Ball im WM-Vorrundenspiel gegen Portugal. (Foto: AFP)

Mesut Özil enttäuscht in Brasilien weniger als erwartet. Der Bundestrainer glaubt, dass sein Team nur mit einem starken Özil Weltmeister werden kann, und gibt ihm jede Minute Spielpraxis. Die Partie gegen die USA eignet sich, um endlich wieder den magischen Özil zu zeigen.

Von Thomas Hummel, Recife

Das Genie ist ein jahrhundertealter Begriff in der deutschen Literatur. Vor allem in der Klassik und Romantik kam kaum ein Werk ohne eine Person aus, die mit ihrer Schaffenskraft die Welt beeindruckte. Es gab einen wahren Kult um das Genie. Manche hatten gar die Vorstellung, dass in jedem eines stecke und man es nur rauslassen müsse.

Diese Debatte in die postmoderne WM-Zeit übertragen, heißt: Wann lässt Mesut Özil sein Fußballgenie raus? Oder anders gesagt: Wo bleiben die Geniestreiche? Der 25-Jährige ist ein introvertierter Mensch, die Fähigkeit zum schlagfertigen Poltern fehlt ihm gänzlich. Also erklärte er vor dem Spiel gegen die USA in Recife: "Ich weiß, dass ich besser spielen kann, aber ich bin letztlich zufrieden. Ich denke schon, dass ich auf hohem Niveau gespielt habe." Es würden nur die Tore oder Torvorlagen fehlen.

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Kaum ein Spieler im Kader der Nationalmannschaft polarisiert so wie Mesut Özil. Kein Name im deutschen Fußball wird so häufig mit dem Wort Genie in einem Satz benutzt. Seine Fertigkeiten und seine Leichtigkeit lassen sogar bei den schärfsten Beobachtern des Landes die Augen leuchten. Dreimal in Serie wählte ihn der Fanklub der Nationalmannschaft zum Spieler des Jahres. Mit inzwischen mehr als 20 Millionen "Gefällt mir"-Klicks ist er der absolute Facebook-König des deutschen Teams und greift damit sogar die Top Ten des Weltfußballs an.

Genie und Müßiggang

Doch wer ein Genie im Team hat, bekommt den Müßiggang gratis dazu. Was den Genius gerade im pflichtbewussten und arbeitsamen Deutschland sehr verdächtig macht. Wenn Mesut Özils Schultern weit nach unten hängen, wenn die Augen immer größer werden, und er sich nur noch im Schleppschritt über den Rasen bewegt, dann würden ihn viele am liebsten schnurstracks unter die Dusche schicken. Unter die kalte Dusche, versteht sich.

Für die deutsche Öffentlichkeit hatte eine gewisse Özil-Misere mit dem Champions-League-Duell des FC Arsenal gegen den FC Bayern begonnen. Im Hinspiel verschoss Özil nach wenigen Minuten kläglich einen Elfmeter, danach schien er voll und ganz von Schwermut übermannt. Keinen Zweikampf führte er mehr freiwillig, und wenn er einen führen musste, wirkte er so kraftlos wie jemand, der wochenlang nichts gegessen hatte. Dabei fastet der Muslim nicht einmal während des am Samstag beginnenden Ramadans. "Ich kann nicht mitmachen, weil ich arbeiten muss", erklärte er.

Özil geriet in eine veritable Krise, in London lief nichts mehr so wie bei seinem erstaunlichen Saisonbeginn. Beim Länderspiel gegen Chile im März pfiff ihn das Publikum herzhaft aus, auch gegen Kamerun im Mai war es nicht zufrieden. Vor der WM stand gar Özils Ablösung im Raum.

Bislang wurde aber nur Özils Position abgeschafft. Die Formation des jahrelang gepflegten 4-2-3-1 mit dem zentralen Özil hinter dem einzigen Stürmer ist passé, jetzt sollen vorne drei Offensive mit Rochaden den Stürmermangel ausgleichen. Özil muss deshalb auf rechts rücken, was ihm erkennbar wenig Freude bereitet. "Natürlich ist meine Lieblingsposition die Spielmacherposition", sagte er mehrfach, um mäßigend anzufügen: "Aber auch auf rechts habe ich Freiheiten, ich wechsle auch die Seiten. Das spielt nicht die große Rolle."

Mesut Özil hat die beiden ersten Partien dieser WM bestritten. Er hat dabei nicht so enttäuscht, wie das viele Kritiker erwartet hatten. Der magische Özil war zwar nicht zu sehen, doch gegen Portugal gehörte er einer funktionierenden Offensive an. Gegen Ghana hatte er lange Zeit zumindest mit Ball wieder Schärfe in den Aktionen. Im wilden Hin und Her nach der Pause verließen ihn im heißen Fortaleza allerdings bald alle Kräfte, am Ende wankte er mehr über den Rasen, als dass er lief. Ausgewechselt wurde er trotzdem nicht.

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Von Thomas Hummel, Fortaleza

Es scheint ein geheimes Projekt von Bundestrainer Joachim Löw zu sein, seinen Lieblingsschüler in dieses Turnier hineinzudrücken. Vielleicht geht er insgeheim davon aus, dass seine Mannschaft nur mit einem starken, genialen Özil am Ende Weltmeister werden kann. Deshalb wirft er ihn jetzt in der Gruppenphase trotz aller Bedenken und starker Alternativen hinein in die Kämpfe gegen Klima, Anstoßzeiten und Gegner. Löw sprach auch in Richtung Özil, als er die entscheidende Facette des USA-Spiels benannte: "Wenn wir unsere Qualität auf den Platz bringen, dann werden wir auch gewinnen."

An Einstellung mangelt es nicht

Özil wird aller Voraussicht nach auch gegen die Amerikaner rechts vorne beginnen. Assistent Hansi Flick urteilte: "Mesut betreibt einen sehr hohen Aufwand. Er braucht vielleicht eine entscheidende Situation, dass ihm mal ein Tor gelingt." Die USA wären dafür eigentlich der richtige Gegner. Die Amerikaner bringen zwar viel Leidenschaft und Laufkraft mit, doch fußballerisch können sie mit einem Mesut Özil in Normalform bei weitem nicht mithalten. Und an der geforderten Einstellung mangelt es ihm auch nicht.

"Wenn man nur 90 Prozent Gas gibt, dann ist man schnell weg bei der WM. Unser Ziel ist es, hundert Prozent Gas zu geben", sagte er, und wurde sogar ungewöhnlich forsch: "Wir wollen unbedingt Weltmeister werden, und wir wissen auch, dass wir jede Mannschaft schlagen können."

Vielleicht ist es ja wirklich so, wie sein Mitspieler und Freund aus London, Lukas Podolski, vor der WM gesagt hatte: "Mesut Özil ist so wie er ist, das muss man akzeptieren. Man sollte nicht draufhacken auf ihn. Lasst ihn einfach Fußballspielen."

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