Marcelo von Real Madrid:Der kleine Bruder von Roberto Carlos

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Die Spielweise von Marcelo ist spektakulär, wie viel Brasilianer verfügt er über einen ausgeprägten Offensivdrang und wirkt defensiv nicht immer ganz Sattelfest. (Foto: AFP)
  • Marcelo wird mit Real Madrid im Halbfinale den FC Bayern herausfordern.
  • Dass der Linksverteidiger so gut geworden ist, hängt auch an seinen Anfängen im Futsal.
  • Hier geht es zu den Ergebnissen in der Champions League.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro, und Javier Cáceres, Madrid, Rio de Janeiro/Madrid

Im Bernabéu ist gerade Halbzeitpause. Vor einem großen Aschenbecher beim Foyer steht Roberto Carlos, 45, das Gesicht zur Tür gewandt. Er raucht eilig eine Zigarette, bevor er wieder zurück zur Pressetribüne muss, wo er die Spiele seines früheren Klubs für Real Madrid Televisión kommentiert. Es ist nicht ganz einfach, ihn in der Raucherecke zum Plaudern zu bewegen; seine Tätigkeit für den Vereinssender sei exklusiv, sagt er, da bitte er um Verständnis. Doch die Auster öffnet sich, wenn man einen Namen als Messer benutzt: Marcelo.

Marcelo Vieira da Silva Júnior, 29, ist der Nachfolger von Roberto Carlos als Linksverteidiger bei Real. "Er hat alles. Wirklich alles", sagt der eine über den anderen Brasilianer.

Seine Schusstechnik sieht, gelinde gesagt, exotisch aus

Eines muss man vielleicht vorab klarstellen: Wenn Brasilianer über Linksverteidiger schwärmen, dann schwärmen sie über Offensivkräfte. In der Heimat von Roberto Carlos ist die Geschichte dieser Position eine Geschichte des Sturms und Drangs. Sie hat spätestens mit Nílton Santos begonnen, dem Weltmeister von 1958, und führte über Júnior, den linken Verteidiger der herzzerreißend erfolglosen Seleção von 1982, zu Branco, dem Weltmeister von 1994. Mit Roberto Carlos, dem Weltmeister von 2002, schien sie ihren Höhepunkt erreicht zu haben. Damals war Marcelo aber erst 14 Jahre alt und hatte noch nie ein offizielles Fußballspiel bestritten.

Dass er alles, wirklich alles kann, ist vielleicht ein bisschen übertrieben. Der Linksverteidiger Marcelo gilt als nicht sonderlich sattelfest in der Defensive. Auch das hat bei brasilianischen Außenverteidigern Tradition. Wie gut er flanken kann, ist umstritten, er flankt ja eher selten. Seine Schusstechnik sieht, gelinde gesagt, exotisch aus. Freistöße aus allen Lagen, für die Branco und Roberto Carlos berühmt wurden, sind auch nicht seine Sache. Trotzdem lehnt man sich nicht weit aus dem Fenster, wenn man sagt, dass er der derzeit beste Linksverteidiger der Welt ist. Der mit dem originellsten Repertoire ist er allemal.

Denn Marcelo, der am Mittwoch mit Real Madrid zum Hinspiel im Champions-League-Halbfinale beim FC Bayern antritt, hat diese Position neu definiert. Wie kaum ein anderer ist er in der Lage, von links hinten aus ein Spiel zu prägen. Er dribbelt und tänzelt die Außenbahn auf und ab. Manchmal stoppt er hohe Bälle mit dem Außenrist, an die andere nicht einmal mit dem Kopf herankämen. In der Defensive sieht man ihn vor allem als listigen Balldieb. Wenn er sich in den Angriff einschaltet, also praktisch immer, titscht er die unmöglichsten Kurzpässe in den Strafraum hinein oder er sucht selbst den Abschluss. Und es hat den Anschein, als würde er dabei durchgängig lächeln, als verzücke er neben seinem Publikum auch sich selbst. Nicht nur wegen seiner vogelnestartigen Frisur wirkt er wie ein Kobold, der sich in den Profifußball verirrt hat.

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Um diesen Spieler und seinen Spielstil zu verstehen, lohnt sich ein Besuch im Estádio das Laranjeiras, dem Stadion der Orangenbäume, in Rio de Janeiro. Es ist ein tropischer Prachtbau, zu drei Seiten umringt von Palmen und grünen Hügeln (Orangen gibt es nebenan im Supermarkt). Den Cristo auf dem Corcovado haben sie genau so positioniert, dass er beide Tore des ältesten Stadions Brasiliens im Blick hat. Die weltberühmte Christusstatue gab es aber noch gar nicht, als unten auf dem Rasen im Juli 1914 die erste internationale Begegnung der brasilianischen Seleção stattfand. Brasilien gegen Exeter City 2:0. Die elf Gastgeber traten damals ganz in Weiß an, inklusive des Torwarts, er war an seinem bizarren Hut zu erkennen. An diesem bezaubernden Ort hat auch die Karriere von Marcelo begonnen.

Heute wird das Orangenbaumstadion nur noch für Jugendspiele und als Trainingsplatz genutzt. Es ist eingebettet in den Sportkomplex von Rios Traditionsverein Fluminense, der in den Sechzigern auf Druck der Stadt die Ostkurve verkaufen musste. Sie wurde abgerissen, um Platz für eine Schnellstraße zu machen. Hinter der Westkurve befinden sich Tennisplätze, Basketballfelder, ein Schwimmbad sowie eine kleine, stickige Halle, in der Zwölfjährige bei 35 Grad Außentemperatur fünf gegen fünf spielen. Der Ball ist platt, und zwar aus Prinzip, er soll so wenig wie möglich hüpfen bei dieser Form des Hallenfußballs, dem Futsal. Marcelo Teixeira, der Sportdirektor von Fluminense, sagt: "Hier hat Marcelo fast alles gelernt, was er kann."

Er war in der Nachbarschaft aufgewachsen, in einer der schummrigeren Ecken des Mittelklasseviertels Catete. "Mit zwölf Jahren", erinnert sich Teixeira, "stand er mit seinem Opa an der Hand plötzlich bei uns vor der Tür." Teixeira, der damals noch die Nachwuchsabteilung leitete, erkannte schnell, dass dies nichts anderes als ein Geschenk für Fluminense war.

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"Das ist einer der Besten, die wir je hatten"

In Brasilien ist Futsal auch deshalb ein Nationalsport, weil fast alle Großstädte heillos überfüllt sind. Viele kleinere Vereine haben gar keinen Platz für ein herkömmliches Fußballfeld und nehmen deshalb ausschließlich an Futsal-Wettbewerben teil. Es handelt sich um eine Art institutionalisierten Bolzplatzkick, bei dem vor allem Reaktionsgeschwindigkeit auf engstem Raum gefordert ist. Das Spiel ist wesentlich schneller und intensiver als Großfeldfußball. Das prägt den brasilianischen Stil seit Generationen. Auch die beiden derzeit teuersten Erdlinge, Neymar und Philippe Coutinho, haben so angefangen. Teixeira sagt: "Marcelo war mit 14, 15 Jahren der große Futsal-Star von Rio."

Bei Fluminense haben sie dieses Spiel zum Ausbildungsprinzip erhoben. Jugendliche bis zehn Jahre spielen dort ausschließlich Futsal. Dann gibt es eine dreijährige Übergangsphase, in der die Spieler behutsam an das Elf-gegen-elf und an den hüpfenden Ball herangeführt werden. Mit 13 wechseln die meisten zum klassischen Fußball. "Marcelo aber", erzählt Teixeira, "war auf dem Kleinfeld so überragend, dass er erst mit 15 umgeschult wurde."

Der Sportdirektor erinnert sich noch an den Tag von Marcelos erstem Training auf dem großen Platz. Der Junge sei wie immer vom Opa gebracht worden, er habe ein Trikot mit der Nummer 10 getragen und sich selbstverständlich als Spielmacher gesehen. Hinterher kam der Trainer zu Teixeira und sagte: "Das ist einer der Besten, die wir je hatten. Aber ich glaube nicht, dass er ein Mittelfeldspieler ist. Wir sollten ihn auf links stellen."

Ab diesem Tag war Marcelo ein Linksverteidiger. Und was für einer! Ein Jahr später, im November 2005, debütierte er im Trikot von Fluminense in der ersten brasilianischen Liga. 2007 verpflichtete Real im Rahmen einer südamerikanischen Shoppingtour einige der damals vielversprechendsten Talente des Kontinents: die Argentinier Fernando Gago und Gonzalo Higuaín - und den Brasilianer Marcelo. Gago spielt wieder bei Boca Juniors in Buenos Aires, er blieb ein unerfülltes Versprechen, Higuaín landete über Neapel bei Juventus Turin. Marcelo ist hinter Kapitän Sergio Ramos inzwischen der dienstälteste Spieler bei Real und hat bereits drei Champions-League-Titel gewonnen. Unter anderem.

Dass er überhaupt in Madrid landete, war eine böse Überraschung für den besten Perlentaucher des spanischen Fußballs: Ramón Rodríguez Verdejo alias "Monchi", heute Manager bei der AS Rom und seinerzeit Sportdirektor des FC Sevilla. Monchi hatte sich 2007 bereits mit Fluminense über einen Transfer Marcelos nach Andalusien geeinigt, doch Reals Scout Franco Baldini setzte ihn in Rio kurzerhand in einen Flieger nach Madrid und kutschierte ihn ins Bernabéu, wo er umgehend als Zugang vorgestellt wurde. Dort wusste man wenig von dem Futsal-Wunderkind aus dem Orangenbaumstadion, und schon gar nicht traute man ihm zu, den unwiderstehlichen Roberto Carlos zu beerben.

Marcelo erzählte mal: "Roberto Carlos war wie ein Bruder zu mir und hat mir in der Anfangsphase enorm geholfen. Weihnachten haben wir immer zusammen gefeiert, weil wir nicht nach Brasilien durften."

In Madrid bläst der große Bruder Roberto Carlos Rauch in die Luft und sagt: "Er ist seinen eigenen Weg gegangen. Ich habe mit seinem Werdegang nichts zu tun."

Als Marcelo seine kritischste Phase bei Real erlebte, war Roberto Carlos tatsächlich nicht mehr da: Nach der Verpflichtung von José Mourinho als Trainer im Jahr 2010. Der Portugiese brachte seine eigenen Vorstellungen von den taktischen Aufgaben eines Außenverteidigers mit - dem brasilianischen Prototyp standen sie diametral entgegen. In Madrid hält sich das Gerücht, er habe vor allem erreichen wollen, dass Marcelo den Mourinho-Manager Jorge Mendes zum Agenten nimmt. Auch Ronaldo und Pepe sollen ihn geschnitten haben, doch Marcelo blieb standhaft. Mourinho rächte sich auf seine Weise: 2011 holte er für 35 Millionen Euro den Linksverteidiger und Mendes-Klienten Fábio Coentrão aus Portugal nach Madrid. Gleichzeitig tauchten Medienberichte auf, wonach Marcelo aufgrund seines ausschweifenden Lebensstils übergewichtig sei. Die meisten Insider halten das für üble Nachrede, Marcelo gilt als zurückhaltender und höchst professioneller Spieler.

Unter Mourinho gab es Tage, an denen er dem Abschied aus Madrid sehr nahe zu sein schien. Und an denen er vermutlich nur mithilfe des sehr brasilianischen Lebensmottos seines Großvaters durchhielt: "Schau mich an! Ich habe nicht einen Dollar in der Tasche. Aber hier bin ich, glücklich wie ein Hurensohn!"

"Ohne meinen Opa wäre ich nie bei Real Madrid gelandet"

Dieser Opa, Pedro Vieira da Silva Filho, war immer Marcelos wichtigste Bezugsperson. Seine Eltern hatten sich früh getrennt, sie konnten oder wollten sich nicht um ihn kümmern. Er wuchs zusammen mit seiner Schwester im Haus der Großeltern auf. Opa Pedro ging etwa zu der Zeit in Rente, als Marcelos Futsal-Karriere bei Fluminense begann. Wenn die Oma ein Trainingsverbot verhängte, weil er in der Schule Probleme hatte, brachte ihn der Opa eben heimlich zum Training, stets mit seinem VW- Käfer, Baujahr 1975. Von Marcelo ist der Satz überliefert: "Ohne meinen Opa wäre ich nie bei Real Madrid gelandet und schon gar nicht in der Seleção." Auch als er längst in Spanien wohnte, telefonierte er noch nach jedem Spiel mit Don Pedro in Rio, er hat sich seinen Namen auf den Arm tätowiert und ihn immer wieder angefleht, bloß den alten Käfer nicht zu verkaufen. Pedro Vieira da Silva Filho starb im Juli 2014 - drei Tage vor dem WM-Halbfinale zwischen Brasilien und Deutschland.

Wenn man sich das Spiel, in dem selbst dem Kobold das Lächeln verging, heute noch einmal anguckt, was schwer zu ertragen ist, dann sieht man auch einen 90 Minuten lang komplett desorientierten Marcelo. Aber die schlimmste Partie seines Lebens steht in einem anderen Licht, wenn man weiß, dass er kurz zuvor seinen Großvater verloren hat, der für ihn ein Vater war. Marcelo ist der einzige Brasilianer, der bei diesem 1:7 durchspielte, und hinterher trotzdem eine feste Größe in der Seleção blieb. Wer ihn auch nur ein bisschen kennt, weiß, dass in seinem Fall mildernde Umstände zu gelten haben.

Angeblich gehört er aber auch zu den wenigen Brasilianern, die über dieses legendär verkorkste Spiel bis heute nicht lachen können. Und das hängt keineswegs nur mit dem Tod des Opas zusammen. Marcelo ist sehr wohl bewusst, dass er die Champions League noch so oft er will gewinnen kann - ohne diesen verdammten WM-Pokal, den er 2014 in seiner Heimat verpasste, werden sie ihn in Brasilien niemals als legitimen Erbfolger von Männern wie Nílton Santos, Branco oder Roberto Carlos anerkennen. "Bei uns ist es wie in Argentinien: Entweder du bist Weltmeister, oder du bist nichts", sagt Roberto Carlos und drückt seine Zigarette aus.

© SZ vom 25.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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