Der portugiesische Wissenschaftler António Prieto Veloso leitet das Labor - Achtung, nun wird es etwas sperrig - für "Biomechanik und Funktionelle Morphologie" der Fakultät für Menschliche Motorik der Universität Lissabon. Sein ganzes berufliches Leben besteht im Grunde aus Daten, aus Vermessungen und Formeln von Körpern, wie sie nach dem jüngsten Kunstwerk des Fußballers Cristiano Ronaldo, 33, in ganz Europa debattiert wurden: nach dem Fallrückzieher im Viertelfinale der Champions League gegen Juventus Turin.
Die ganze Welt weiß längst, wie lang Ronaldos letzter Schritt (1,3 Meter) vor dem endgültigen Absprung war, wie viel Zeit er für diesen Schritt in Anspruch nahm (0,24 Sekunden), wie hoch die Fußspitze war, als er mit dem Spann gegen den Ball schlug (2,21 Meter), erst recht, dass der Ball eine Geschwindigkeit von 81 km/h erreichte, als er aus 13 Metern ins Juve-Tor flog.
Eine Wikipedia-Seite voller Rekorde
Wer weiß, was noch an Daten erhoben wurde? Doch ausgerechnet Veloso, der Spezialist für ebensolche Fragen, vermittelt fast das Gefühl, dass er sich ärgert ob des Wusts an Statistiken. Das Wesentliche, meint er, sei etwas anderes. "Wissen Sie, worüber kaum jemand spricht? Über die eigentliche Grundvoraussetzung für dieses Tor, über das wahrhaft Wunderbare: Cristianos taktische Kultur."
Cristiano Ronaldo:"Das ist mir in meiner Karriere bisher noch nicht passiert"
Cristiano Ronaldo wird nach seinem Fallrückzieher in Turin sogar von den gegnerischen Juventus-Fans minutenlang gefeiert. Der Real-Profi zeigt sich daraufhin ungewohnt demütig.
Am Mittwoch spielt Ronaldo im Hinspiel des Champions-League-Halbfinales mit Real Madrid beim FC Bayern. Und wenn es einen Grund dafür gibt, dass der Sieger der vergangenen beiden Ausgaben dieses Wettbewerbs, der Rekordtitelträger Real, favorisiert ist wie selten zuvor in seinen bisher 24 Duellen mit den Bayern, liegt das auch und vor allem an Ronaldo. Fünfzehn Jahre, acht Monate, eine Woche und vier Tage werden am Mittwoch seit Ronaldos Profidebüt für Sporting Clube de Portugal in Lissabon vergangen sein. Nun ist Ronaldo 33 Jahre alt, und er hat so viele Rekorde und Titel gesammelt, dass es allein darüber eine Wikipedia-Seite gibt, bei der man am Computer sehr lang nach unten scrollen muss, um sie ganz zu lesen. Doch das Verblüffende ist, dass er nun vielleicht sogar in der Form seines Lebens ist. Und niemand so recht erklären kann, woran das liegt.
Es gibt diese Gerüchte in Madrid: dass alles einem Plan folgt, den Ronaldo in den Tagen des tumultösen Saisonbeginns wenigen Vertrauten in der Real-Kabine verraten haben soll. Es hatte eine Reihe von atmosphärischen Störungen gegeben, die Ronaldo umtrieben und Zeitungen füllten: Der spanische Fiskus war (und ist) ihm auf den Fersen, Ronaldo soll über Briefkastenfirmen 14,8 Millionen Euro an Werbeeinnahmen an Spaniens Steuerbehörden vorbei ins Ausland geschleust haben. Ihm droht ein Prozess, umgehen kann er ihn nur, wenn er sich für schuldig erklärt, obwohl er meint, sich musterhaft verhalten zu haben.
Ronaldo wandelt wie kein Zweiter die Egozentrik zu Brennstoff um
Ronaldo fühlte sich vom Klub nicht mal annähernd unterstützt, stattdessen gab es Gerüchte, Real wolle ihn verkaufen, weil man ihn für amortisiert hielt, wirtschaftlich und sportlich. Zudem empfand Ronaldo es als himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass er seit 2016 ein Nettojahresgehalt von nur 21 Millionen Euro erhält - und damit nicht einmal halb so viel wie der Brasilianer Neymar bei Paris Saint-Germain oder der Argentinier Lionel Messi beim FC Barcelona.
Die Entscheidung, die er angeblich traf, würde gut zu ihm passen. Beziehungsweise zum Klischee, das man von ihm hat: das Klischee des Athleten, der wie kein Zweiter die Egozentrik zu Brennstoff umwandelt. Er habe signalisiert, dass er sich in der Liga nicht aufreiben, sich allein auf die Champions League und die Weltmeisterschaft in Russland konzentrieren werde. Nur diese Wettbewerbe würden ihm persönlich Glanz versprechen und den sechsten Titel als Weltfußballer sichern; nur diese Wettbewerbe würden helfen, seinen Namen überdauern zu lassen, bis in alle Ewigkeit, Amen. Fakt ist freilich nur dies: Er steht im Vorhof des Champions-League-Finales. Und er kann mit einiger Zuversicht auf die WM blicken. Weil er eine Verwandlung abgeschlossen hat, die ihn in einem erstaunlichen Alter in eine neue Dimension katapultiert hat.
Die Verwandlung war ein schleichender Prozess, der vor der WM in Brasilien 2014 einsetzte, als ihm die Knie signalisierten, dass er in die Jahre kam. Er hatte als Außenstürmer begonnen, brauchte und fand große Räume, um seine Schnelligkeit auszuspielen. Irgendwann spielten die Knorpel nicht mehr mit, er bekam Probleme, sich in Eins-gegen-eins-Situationen durchzusetzen. Es gab nicht wenige Experten, die ihm rieten, als Mittelstürmer zu spielen. Lange hatte man den Eindruck, dass er sich dagegen wehrte. Wenn dem so gewesen sein sollte, hat er die Skepsis überwunden. Es ist längst keine Frage mehr, wer bei Real den Angriff monopolisiert: Ronaldo, Alpha und Omega des Rekordmeisters.
Der Waliser Gareth Bale, wie Ronaldo ein 100-Millionen-Euro-Einkauf? Ein Komparse, immer häufiger auf der Bank. Karim Benzema, der Liebling Zinédine Zidanes und von Klubchef Florentino Pérez? Inexistent. "Die BBC" - wie der Sturm aus Bale, Benzema und Cristiano genannt wird - "ist Vergangenheit", titelte die Zeitung Marca. Real kreist mehr denn je um Ronaldo.
Champions League:Real ist erst besiegt, wenn Ronaldo am Ende sein Trikot noch an hat
In der 93. Minute bekommt Madrid gegen Juventus Turin einen diskutablen Elfmeter und natürlich ist es der Weltfußballer, der ihn verwandelt. Selbst Kritiker müssen anerkennen: Er macht das überragend.
Er kann auf 24 Treffer in 25 Ligaspielen verweisen, in der aktuellen Champions League kommt er auf 15 Tore in zehn Einsätzen. In den Viertelfinalspielen gegen Turin erzielte er nicht nur den Fallrückzieher beim 3:0 im Hinspiel, sondern drei der insgesamt vier Madrider Treffer, darunter den Elfmeter zum 1:3 im Rückspiel, der in letzter Minute den Einzug ins Halbfinale sicherte. Auch am vergangenen Mittwoch, gegen Bilbao, schoss er ein Tor: Per Hackentrick rettete er einen Punkt, die Zeitungen verglichen seinen Treffer mit ähnlichen Toren von Alfredo Di Stéfano, der Ikone Reals schlechthin.
Ronaldo hat nun schon zwölf Spiele aneinandergereiht, in denen er traf (insgesamt 22 Mal); es ist der beste Lauf, den er je hatte, seit er bei Real ist. Vom aktuell besten Schützen der spanischen Liga, Lionel Messi (29 Tore), ist er nur noch fünf Treffer entfernt. Ronaldo hat für Real nun insgesamt 448 Tore in 433 Spielen geschossen, mehr als jeder andere in der Geschichte des Klubs. Und das alles nach einer desaströsen Hinrunde, in der Madrid die Meisterschaft verspielte.
"Messi spielt gegen die gegnerische Mannschaft. Ronaldo spielt gegen das gegnerische Tor."
Nach 19 Spielen lag der Verein abgeschlagen 19 Punkte hinter dem Tabellenführer FC Barcelona auf Platz vier. Der Klub schied im Pokal aus. Trainer Zidane wackelte. Ronaldo hatte gerade einmal vier Tore in der Liga erzielt. In den Redaktionen spanischer Zeitungen wurde mit neuen Statistiktools gespielt: mit dem sogenannten "Expected-Goals"-Modell, das auf der Basis von Daten wie der Ausgangsposition der Schüsse, der Position des Torwarts oder der Spielsituation die Wahrscheinlichkeit eines Tors erfasst.
Ronaldo musste sich vorrechnen lassen, dass er den schlechtesten "xGoal"-Wert aller Stürmer Europas hatte. Er, der sonst für 50, 60 Tore pro Saison bürgt. Er, der sich selbst für den besten Spieler der Geschichte hält und es in jedem Fall mit den besten Finishern der Historie aufnehmen kann. Selbst über den ewigen Vergleich mit Lionel Messi wird weniger geredet denn je; unvergleichbar sind sie eh, wie der argentinische Fußball-Deuter Jorge Valdano sagt: "Messi spielt gegen die gegnerische Mannschaft. Ronaldo spielt gegen das gegnerische Tor."
Ronaldo habe immer schon die perfekte Morphologie für die Ausübung des Fußballspiels gehabt, erzählt Biomechaniker Veloso. Vom Körperbau sei Ronaldo ein "ecto-mesomorpher" Typ, eine Mischung "aus einem neuseeländischen Rugbyspieler und einem dünnen Hochspringer". 2006 untersuchte Veloso die portugiesischen Nationalspieler, die Resultate raubten ihm den Atem: Ronaldo sprang aus ruhender Position und leicht angewinkelten Knien heraus 58 Zentimeter hoch, die anderen im Schnitt 36 Zentimeter. Bei einem zweiten Test sollte er ebenfalls ohne Anlauf springen - mit zunächst gestreckten, dann vor dem Sprung leicht angewinkelten Beinen - und kam auf 61 Zentimeter. Werte, die es mit Sprintern und Springern aufnehmen können, sagt Veloso. Werte, die Rückschlüsse auf Schnelligkeit und Kraft geben. Die wichtigsten Waffen Ronaldos.
Er hat sie immer noch. Nach allem, was man weiß, dürfte es schwierig sein, einen Profi zu finden, der mit größerer Hingabe an seinem eigenen Körper feilt. Ob er einen Fitnesstrainer beschäftigt, ist nicht bekannt, wohl aber laut Presseberichten, dass er nach Verletzungen einen spanischen Physiotherapeuten konsultierte, den er auch zur EM nach Frankreich mitnahm. Sicher ist: Er pflegt seinen fast fettlosen Körper obsessiv, und auch wenn er noch immer nach Toren dem Exhibitionismus frönt, scheint er mehr darauf zu achten, nicht zu sehr an Muskelmasse zuzulegen.
Ronaldo setzt seine Schnelligkeit selektiver ein als früher
Überhaupt hat er gelernt, sich zurückzunehmen. In zwei Jahren unter Zidane hat er in 17 Spielen pausiert, in den fünf Jahren zuvor setzte er 15 Mal aus. In seinem Heim stehen Fitnessgeräte neuester Generation, Eis- und Überdruckkammern, um die Regeneration zu verbessern, er achtet akribisch auf seinen Schlaf und die Ernährung, er diskutiert erbittert mit den Konditionstrainern im Klub. Und er trainiert vor allem Explosivität und Schnelligkeit, mit Übungen, bei denen er den Körper mit fein austarierten Gewichten belastet. Heißt es.
Der Unterschied zu früher: Er setzt diese Schnelligkeit selektiver ein. Er fordert nicht mehr jeden Ball und spielt direkter, was nicht heißt, dass ihm die Füße brennen, wenn er den Ball hat. Heute sieht man einen Ronaldo, der sich rund um den Strafraum bewegt, aber einen sagenhaften Instinkt für den Zeitpunkt entwickelt hat, zu dem er den Strafraum betritt. Sein neues Habitat.
Veloso hat die Szene vom Fallrückzieher von Turin immer wieder studiert. Und er kann sie so minutiös erzählen, als hätte er selbst das Tor geschossen: Wie Linksverteidiger Marcelo von der Mittellinie einen viel zu langen Pass spielt, wie Ronaldo nach einem 40-Meter-Sprint den Ball an der Grundlinie erobert, um ihn Lucas Vázquez aufzulegen, Buffon den Schuss pariert, und Carvajal den abgewehrten Ball auf der rechten Seite wieder in den Strafraum bringt. "Da schon hat sich Ronaldo dorthin orientiert, wo der Ball hinkommen wird, dann hat er mit zwei kleinen Hüpfern den Sprung zum Fallrückzieher vorbereitet. Das ist, was ich mit taktischer Kultur meine: Ronaldo trifft nicht, weil er schneller ist, einen härteren Sixpack hat, weil er höher springt als die anderen. Er trifft, weil er weiß, wo er stehen muss." Wie man dem begegnen kann? "Mit taktischer Kultur", sagt Veloso.