Khedira mahnt zu mehr Defensive:Wie einst Michael Ballack

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"Zerstückelt, zersplittert, zerrüttet": Die späte Vereinigung der bayerischen und der übrigen Nationalspieler beendet zwei Wochen vor der EM einen Zustand, für den Joachim Löw zuletzt schlimme Worte fand. Für den nun folgenden Vorbereitungsendspurt fordert Sami Khedira die Konzentration auf eine bessere Kompaktheit im DFB-Team.

Philipp Selldorf, Tourettes

Dieser 26. Mai 2012 wird eines Tages vielleicht seinen Platz finden in der Geschichte des deutschen Fußballlandes, als Tag der Vereinigung, dessen heilige Stunde die Chronisten eine knappe Stunde vor Mitternacht ansiedeln.

In diesem Moment fanden endlich die verlorenen Fragmente der zerbrochenen Mannschaft zusammen. Die einen, die aus München angereist waren, hatten den Abend schon im Mannschaftshotel in Südfrankreich verbracht, ein mediterranes Gewitter erster Güte hatte sie angemessen willkommen geheißen. Die anderen kehrten müde und betrübt von ihrer fehlgeschlagenen Expedition in die Schweiz heim.

Einzelheiten der Begegnung wurden von offiziellen Stellen nicht übermittelt, aber wahrscheinlich sind sich alle in die Arme gefallen und haben sich, womöglich schluchzend und wehklagend, gegenseitig getröstet: Die einen trösteten die Verlierer von Basel, die anderen die gebrochenen Männer aus München. Dann rief der Bundestrainer zur konstituierenden Mannschaftssitzung in den Konferenzraum.

Die späte Vereinigung der bayerischen und der übrigen Nationalspieler geht als zentrales Ereignis in den deutschen Fußballsommer ein, sie beendet einen Zustand, auf den Joachim Löw zuletzt Worte anwendete, als wollte er einen Horrorfilm nacherzählen. "Zerstückelt, zersplittert, selbst zerrüttet könnte ich gelten lassen", in diesen Begriffen hatte er schon vor zwei Wochen auf Sardinien über die Vorbereitung seines Teams aufs EM-Turnier gesprochen.

Damals hatte er allerdings noch fröhlich betont, er sei nicht bloß entspannt, sondern "tiefenentspannt". Von den Schrecken, die das Champions-League-Finale und das mutmaßlich harmlose Testspiel gegen Ottmar Hitzfelds Schweizer bringen sollten, ahnte er da noch nichts.

Kurzer Tagesausflug

Beim Spiel in Basel am frühen Samstagabend haben Millionen Fernsehzuschauer dann einen ziemlich aufgebrachten Bundestrainer erlebt. Vermutlich würde es nicht mal ein 95-jähriger Yogi schaffen, eine solche 3:5-Niederlage gegen die Schweiz entspannt zu überstehen, Löw jedenfalls hat mehrmals vernehmlich geflucht, er hat gestikuliert und die Arme geschwungen, als könnte er das Unglück aufhalten, aber das Unglück nahm seinen Lauf und hörte nicht mal auf, nachdem der Debütanten-Torwart Marc-André ter Stegen schon fünf Tore kassiert hatte.

Immer noch fielen die Schweizer munter über die schutzlose deutsche Abwehrreihe her, als wäre ihr Gegner nicht große Nachbar aus dem Norden, sondern vielleicht der kleine Nachbar Liechtenstein. "Was soll ich dazu sagen?", meinte ter Stegen. Der 20-jährige Torwart, der das Fußballdeutsch eines (mindestens) 30-Jährigen beherrscht, war vor lauter Enttäuschung ziemlich sprachlos, wie sein Ahnherr Oliver Kahn empfand er die vielen Gegentore als Prügel am eigenen Leib.

Natürlich hat es schon immer solche Tests gegeben, die aus einer komplexen Situation heraus ein schlimmes Bild erzeugten, das nicht der Wirklichkeit entsprach. Die Reise in die Schweiz - aus Gründen der Trauerpause ohne die Bayern - hatte der Trainerstab des DFB bewusst als Tagesausflug geplant, um keine Zeit zu verlieren; die Vorbereitung ohne Übernachtung war demnach unzureichend, das hat Löw billigend in Kauf genommen, dazu kam die Vorgeschichte von 21 zum Teil erstaunlich anspruchsvollen Trainingseinheiten.

Eine gewisse Langsamkeit war verständlich, das hohe Maß an allgemeiner geistiger Trägheit überraschte aber. So etwas hatten sich die Deutschen unter Löw eigentlich schon abgewöhnt. Der Bundestrainer beließ es zunächst bei mildem Tadel fürs misslungene Ganze ("keine gute Mannschaftsleistung"), was es ihm ersparte, bei den erschreckenden und besonders erschreckenden Phänomenen (namentlich Per Mertesacker) ins Detail zu gehen.

Er gab aber auch zu, dass er sich erst mal einen Überblick über die lange Mängelliste verschaffen müsste, Löw ist kein Mann der schnellen Analyse. Seine Teilnahme am Helikopter-Ausflug zum Formel-1-Rennen in Monaco am Sonntag blies er ab, zur Pressekonferenz am Montag schickte der DFB dann Sami Khedira. Die Bayern erhielten derweil noch etwas Verschonung vor Fragen, die alte Wunden berühren könnten.

DFB-Elf in der Einzelkritik
:Abwehrgeister und Berner Milchkühe

Per Mertesacker wirkt sowohl körperlich als auch geistig zu langsam, Mesut Özil hat scheinbar keine Lust auf die zweite Mannschaft, Lukas Podolski klatscht sich immerhin heftig mit dem Trainer ab. Nur Sami Khedira wehrt sich gegen die Niederlage. Die DFB-Elf beim 3:5 gegen die Schweiz in der Einzelkritik.

Thomas Hummel, Basel

Khedira hatte eine Betrachtung zur Hand, in der ein Stück Systemkritik nicht fehlte. Der Mittelfeldspieler, der sich als Abteilungsleiter im defensiven Zentrum sieht - neben dem Abteilungsleiter Bastian Schweinsteiger -, rückte das Spiel in Basel kriminologisch in einen Verdachtszusammenhang mit den Partien gegen Frankreich (1:2 im Februar) und in der Ukraine (3:3 im November 2011).

DFB-Elf in der Einzelkritik
:Abwehrgeister und Berner Milchkühe

Per Mertesacker wirkt sowohl körperlich als auch geistig zu langsam, Mesut Özil hat scheinbar keine Lust auf die zweite Mannschaft, Lukas Podolski klatscht sich immerhin heftig mit dem Trainer ab. Nur Sami Khedira wehrt sich gegen die Niederlage. Die DFB-Elf beim 3:5 gegen die Schweiz in der Einzelkritik.

Thomas Hummel, Basel

"Zahlen lügen nicht, sie sprechen für sich", meinte Khedira und mahnte, "in der ganzen Euphorie" über die künstlerisch wertvolle Offensivpracht dürfe die Defensive nicht vernachlässigt werden. Ideologisch galt sein Plädoyer einer besseren "Mannschaftskompaktheit", denn zuletzt, so hob er hervor, "haben wir es nicht gut gemacht".

Ein bisschen erinnerte diese Ansprache an Michael Ballack, der sich ebenfalls schon als Mahner für mehr Achtung vor der Defensive verdient machte: 2006 vor der WM, als er gegen Jürgen Klinsmanns herrschende Hurra-Linie seinen Adjutanten Torsten Frings in die Deckung beorderte. Es waren andere Zeiten, aber die Diskussion ist ein Klassiker, es ist nicht verwunderlich, dass sie nun über das DFB-Team hereinbricht, das sich so lange an seinem spielerischen Reichtum und an den Wunderkindern Özil, Götze, Reus erfreut hat.

Bevor er sich in seine Untersuchung vertiefte, erklärte Löw noch, er wisse, "dass wir uns in der nächsten und übernächsten Woche eindeutig verbessern werden". Vor lauter Freude, die Bayern und den Rest seiner Auswahl endlich beieinander zu haben, ließ er am Montag gleich zweimal zum Training antreten. 27 Spieler übten in zwei Gruppen, "alle hochmotiviert", wie Khedira versicherte. Besonders über den moralisch zuletzt arg ramponierten Nebenmann Schweinsteiger konnte er Beruhigendes berichten: "Er macht wieder Späße, redet und isst normal."

© SZ vom 29.05.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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