Deutsche Nationalmannschaft:Löw hat sich als Krisencoach bewährt

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Joachim Löw in Sotschi. (Foto: dpa)

Der Bundestrainer nimmt demonstrativ Abstand von gewohnten Handlungsweisen - und hat damit Erfolg. Jetzt kommt es darauf an, ob die Mannschaft ihre zweite Chance nutzt.

Kommentar von Philipp Selldorf, Sotschi

Das zweite WM-Gruppenspiel einer Vorrunde ist selten ein Spiel, von dem Großmütter und Großväter ihren Enkeln erzählen. Zumindest nicht bei den verwöhnten Deutschen, die diese Aufgabe üblicherweise als Routineakt handhaben. Der Vorrundenabend in Sotschi aber war ein Drama voller Schrecken und Schönheit, das auch im Jahr 2048 noch in Erinnerung der Augenzeugen sein dürfte. Den Beteiligten hat es Strapazen auferlegt wie Figuren in einem Katastrophenfilm, die sich durch brennende Wälder, einstürzende Städte oder apokalyptische Stürme zu kämpfen versuchen. In den Augen des Bundestrainers stand namenlose Angst, und Toni Kroos trat charismatisch wie Steve McQueen aus dem Inferno als Retter hervor.

Die Welt zeigte sich angemessen beeindruckt vom zähen Überlebenswillen der Deutschen, aber sie stellte auch fest, dass sie davon nicht überrascht ist. Überall auf dem Planeten Fußball wurde jetzt wieder die Legende von den Deutschen aufgegriffen, die es schaffen, mit dem letzten Zucken des rechten Fußgelenks ihr eigentlich unvermeidliches Ende abzuwenden. Niemand versteht, warum das immer wieder passiert. Doch alle glauben, dass es immer wieder aufs Neue passieren wird.

Für Özil oder Khedira könnte es einen Weg zurück ins Team geben

Ob Kinder und Kindeskinder in 30 Jahren tatsächlich vom Hergang des Abends am Schwarzmeerstrand erfahren werden, hängt jetzt davon ab, ob die Deutschen das emotionale Kapital dieses Erfolgs zu nutzen wissen. Der Abend in Sotschi könnte einen Gründungsmythos für das Turnier hervorgebracht haben, er könnte zusammenbringen, was zuvor nicht zusammenpassen wollte; er könnte aber auch eine nebensächliche Episode bleiben: Trotz der im sportlichen Sinn existenziellen Dimension war es bloß ein Vorrundenspiel.

In der Stunde X der deutschen WM-Geschichte, die eine ganze Weile wie sein letztes Stündlein als Bundestrainer aussah, bewährte sich Löw als Krisencoach in einer Krise, in die er sich auch selbst manövriert hatte: Er entwarf einen klugen Plan für den Abstiegskampf und nahm dazu demonstrativ Abstand von gewohnten Handlungsweisen. Sami Khedira und Mesut Özil, zwei seiner Lieblingskrieger, mussten es erfahren, aber sie bekamen es auch nicht so hart zu spüren, dass es für sie nicht einen Rückweg ins Team geben sollte.

Das Spielfeld in Sotschi verließ Löw als einer der Haupt-Gewinner, weil er andernfalls seinen Job wohl hätte kündigen müssen, er hatte seinen Anteil am Erfolg, auch wenn der erst in vorletzter Sekunde zustande kam. Doch Fortune zu haben, das gehört inzwischen zu Löws Trainerhandwerk.

© SZ vom 25.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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