Halbfinale der Fußball-EM:Deutschland braucht Müllers Speziallack

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Noch muss die deutsche Nationalelf bei dieser EM ohne Thomas Müllers Genietaten auskommen - aber vielleicht ist das ja ganz gut. So könnte er die Franzosen überraschen.

Von Philipp Selldorf, Évian

Oliver Bierhoff kennt diese Momente, wenn er in der Interviewzone der Stadien zu den Reportern spricht. Der Teammanager ist dort ein gefragter Gesprächspartner, aber er muss immer wieder die Erfahrung machen, dass andere noch viel begehrtere Gesprächspartner sind als er, denn Bierhoff kann zwar schlau und kundig und auch sonst hervorragend reden.

Doch er hat nun mal nicht mitgespielt. Oft passiert dann also folgende Szene: Gerade noch erzählt Bierhoff einem Haufen Journalisten dieses und jenes, da kommt plötzlich ein Spieler des Weges, Mats Hummels zum Beispiel oder Thomas Müller. Und im nächsten Moment spricht Bierhoff nicht mehr mit einem Haufen von Journalisten, sondern bloß noch mit den zwei, drei Übriggebliebenen, die so höflich waren, nicht ebenfalls zum Gespräch mit Mats Hummels oder Thomas Müller überzulaufen.

Diese Stadion-Erfahrung hat Bierhoff am Dienstag auch im Medienzentrum von Évian eingeholt. Soeben war Bierhoff auf der Pressekonferenz befragt worden, ob sich die deutschen Bürger Sorgen um Thomas Müller machen müssten, weil dieser ja bei der Europameisterschaft keine Tore mehr schieße und deswegen womöglich nicht mehr so locker sei, wie man ihn in all den Jahren seiner Karriere immer erlebt hat. Bierhoff erwiderte darauf, dass zur Sorge kein Anlass bestünde, er habe im Duden unter dem Stichwort Lockerheit nachgeschlagen - "und da ist ein Foto von Thomas Müller drin". Doch kaum hatte er den Satz ausgesprochen, da tauchte auf dem Podium der Mann aus dem Lexikon auf und sagte: "Ich bin noch gar nicht da, und schon geht es um mich."

Und in diesem Moment war Oliver Bierhoffs Redezeit beendet. Bühne und Mikrofon gehörten Thomas Müller.

Einige Medien haben bereits externe Experten zur Gemütsverfassung des Angreifers befragt, die Nachrichtenagentur sid etwa übermittelte am Dienstag die Fernanalyse eines Psychologen, wonach Müllers Torlosigkeit nicht auf mangelnde Form zurückzuführen, sondern mangels Spaß am Spiel "ausschließlich mental bedingt" sei. Von einem mental belasteten Thomas Müller berichtet allerdings keiner der Insassen des DFB-Mannschaftshotels, weder die Mitspieler noch die Stabsmitglieder, und der Letzte, der irgendwelche Merkmale von seelischer Gezwungenheit festgestellt hat, das ist Thomas Müller selbst. "Ich habe keine Krawatte", hat er an diesem Dienstag versichert und damit nicht das Kleidungsstück gemeint.

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Torerfolge seien auch nicht der Treibstoff seines Spiels, sie seien "eher der Speziallack, der nach außen gut aussieht. Mein Benzin ist mein Antrieb, Erfolg zu haben und mit der Mannschaft etwas Großes zu leisten". Solche komplexen Sprachbilder entwirft eigentlich keiner, der an Beklemmungen leidet. "Und das Gute ist", warf ungefragt der neben Müller sitzende Klubkamerad Manuel Neuer ein: "Der Thomas verstellt sich nicht."

Selbst wenn Müller als Zeuge seiner eigenen Befindlichkeit wegen Befangenheit unter Vorbehalt steht, so muss man doch feststellen, dass die Telepsychologie nicht das richtige Feld ist, um dem Phänomen des torlosen Torjägers auf den Grund zu gehen. Es ist zwar wahr, dass der Müller-Faktor bei diesem Turnier noch nicht gezündet hat wie bei der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien oder bei der WM 2010 in Südafrika, wo er Torschützenkönig wurde - aber es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sich das nicht schon gegen Frankreich am Donnerstagabend im Stade Velodrome von Marseille ändern könnte. An fehlendem Vertrauen im Team und im Trainerstab wird es nicht liegen.

Müller gehört, obwohl er jedes Turnierspiel mitgemacht hat, zum verborgenen Kapital, das noch im deutschen Kader enthalten ist. "Ich habe das Gefühl: Wenn es wirklich ein Tor braucht, dann macht er eines", sagt Jogi Löw. Und er ist ja nicht der einzige Kinderzimmerstar, der am Donnerstag schlagartig aus der Deckung eines eher unspektakulären Teilnahmeverlaufs kommen könnte.

Götze bemüht sich stets um ein Lächeln

Auch Mario Götze wäre, wie bei der WM in Brasilien, die plötzliche Rückkehr ins Glanzlicht zuzutrauen. Falls ihn der Matchplan des Bundestrainers wieder in die erste Elf rotieren sollte. Müller oder Götze in der vorderen Angriffsposition - "da muss ich noch drüber nachdenken", sagte Joachim Löw. Auch Götze, den es zuletzt zweimal komplett rausrotierte, gibt alles andere als schlechte Laune zu erkennen, auch als Reservist hat er es verstanden, sich stets um ein Lächeln zu bemühen. "Immer drangeblieben" sei Götze, sagt Oliver Bierhoff.

Favorit für den Platz im Angriffszentrum dürfte dennoch Thomas Müller sein. Er hätte nichts dagegen einzuwenden, an die Stelle von Mario Gomez zu treten: "Falls ich da auflaufe, werde ich mich genauso in die Zweikämpfe reinhauen, genauso auf den ersten Pfosten laufen, wie es eben von einem Stürmer verlangt wird", versprach er.

© SZ vom 06.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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