Fußball-EM:Boss Boateng

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Der deutsche Abwehrchef schnauzt seine Teamkameraden nach dem 0:0 gegen Polen öffentlich an. Darf er das?

Von Thomas Hummel, Saint-Denis

Von den mehr als 23 Millionen Zuschauern, die das Spiel Deutschland gegen Polen im Fernsehen schauten, schalten einige bestimmt gerne am Sonntag den Tatort ein. Deshalb dürfte ihnen das Vorgehen der deutschen Chefkritiker nach der Partie wohlbekannt sein. Der Tatort besteht fast immer aus zwei Kommissaren, und wenn es zu einem Verhör kommt, gibt einer immer den emotionalen Verärgerten, der dem Verdächtigen am liebsten an den Kragen geht. Während der andere ihn an der Schulter zurückzieht und anschließend einfühlsam die Geheimnisse aus dem gestressten Bösewicht herausfragt.

Die Methode "good cop, bad cop" ist ein Klassiker in der (filmischen) Polizeibefragung. Und sie ähnelt bisweilen den Gesprächen nach einem wichtigen Fußballspiel. Gerade, wenn es nicht nach Wunsch lief. Die Nation will wissen: Wer ist schuld?

Joachim Löw gab sich nach dem herausgeknarzten 0:0 gegen Polen als "guter Bulle" zu erkennen. Der Bundestrainer analysierte zwar inhaltlich genau ("Die Offensive hat nicht das gebracht, was wir erwarten können"), aber im Ton eines gutmütigen Pfarrers, der mit seinen Schäfchen nicht zu streng sein möchte. Er wirkte ruhig, fast stoisch. Ganz anders Jérôme Boateng.

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Der war schon in der Endphase des Spiels aus der Fassung geraten. In den letzten Minuten ruderte er mit den Armen, schimpfte in Richtung Thomas Müller, Mesut Özil oder Toni Kroos. Boateng war aufgeregt und stinksauer. Zielgenau schnappte sich nach dem Schlusspfiff das Fernsehen den aufgewühlten Mann und hielt ihm ein Mikrofon unter die Nase. Der "böse Bulle" konnte loslegen und lieferte eine messerscharfe Analyse.

Kein Eins-gegen-Eins-Duell gewonnen vorne, zu wenig Bewegung. "Wir können froh sein, dass wir 0:0 gespielt haben." Man müsse mal zum Abschluss kommen, komme an keinem Gegner vorbei, werde nicht gefährlich. "Das müssen wir verbessern, sonst kommen wir nicht weit." Boatengs Lösung: mehr in Laufwege investieren, aggressiver sein, mehr Zweikämpfe gewinnen.

Fehlte nur noch, dass Good Cop Löw von der Seite Boateng an der Schulter gezogen und ihm im Kabinengang gesagt hätte: Was ist nur los mit Dir? Jetzt beruhig' dich mal! Die Tatort-Szene wäre perfekt inszeniert gewesen. Im wirklichen Leben fragten sich einige: Darf der Boateng das? Gleich öffentlich die Kameraden kritisieren? Antwort: Ja, Boss Boateng darf das.

Der 27-Jährige ist bislang bei diesem Turnier das Gesicht der deutschen Mannschaft. Angefangen mit der dummen Aussage des AfD-Politikers Gauland, der sagte, den farbigen Fußballer Boateng hätten die Deutschen gern, den farbigen Nachbarn Boateng wollen die Leute nicht haben. Der Nachbar Boateng ging mit dieser Aussage so souverän um wie der Fußballer mit den Angreifern der Gegner. Er stellt seinen kolossalen Körper rein und lässt sie abprallen. Zur Not kann er aber auch mit einer eingesprungenen Fluggrätsche die letzte Rettung für seine Gruppe sein.

Spätestens seit dem phänomenalen WM-Finale gegen Argentinien in Rio hat sich Boateng zu einem sogenannten Führungsspieler entwickelt. Schon beim FC Bayern spricht er die unangenehmen Wahrheiten aus, wenn es denn welche gibt. Dazu muss natürlich die eigene Leistung einwandfrei in Ordnung sein. Doch damit hat er kein Problem mehr. Auch gegen die Polen wurde klar, warum ihn derzeit viele für den besten Innenverteidiger des Universums halten. An der Seite von Mats Hummels und Manuel Neuer im Tor bildet er das Fundament der deutschen Elf, nur wegen dieses Abwehrzentrums kann Deutschland bei der EM an größere Erfolge denken.

Und da kann man als Abwehrspieler schon mal sauer werden, wenn man hinten gegen den stahlharten Lewandowski unter Einsatz seiner körperlichen Unversehrtheit in die Duelle springt, ständig hoch konzentriert und akkurat agiert, aber vorne partout nichts gelingen will. Das frustriert und setzt zunehmend unter Druck, weil man ahnt, dass ein Fehler schon die Niederlage bedeutet. Immerhin lobte Boateng die fleißige Mithilfe der Offensivgeister an der Abwehrarbeit, und das zu Recht. Dennoch dürfte er die Replik von Thomas Müller nur bitter zur Kenntnis genommen haben: "Mit 0:0 kommen wir auf jeden Fall immer ins Elfmeterschießen."

Die Kritik Boatengs zeigte schon kurz nach dem Spiel bei den Mitspielern Wirkung, Müller oder Mesut Özil reagierten nicht gerade erfreut. Doch so ist das eben als Bad Cop. Am Ende des Tatorts kommen die Kommissare übrigens fast immer zu ihrem Ziel und finden die Lösung. Good Cop Löw, übernehmen Sie!

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