Frankreich:"Seien wir stolz auf unsere Banlieues"

Soccer Football - World Cup - Final - France fans celebrate

Alle Franzosen feiern gemeinsam den WM-Sieg auf dem Prachtboulevard Champs-Élysées.

(Foto: Charles Platiau/Reuters)
  • Nach dem WM-Finale strömen die aus Afrika stammenden Peripherie-Franzosen auf dem Prachtboulevard Champs-Élysées mit den eher weißen Stadtzentrums-Franzosen zusammen.
  • Alle feiern gemeinsam. Für den Präsidenten Emmanuel Macron, der immer die Einheit der französischen Gesellschaft beschwört, hätte es nicht besser laufen können.
  • Aber im Land des neuen Weltmeisters ist der Fußball gesellschaftlich weniger tief verankert als in Deutschland.

Reportage von Leo Klimm, Bondy/Paris

Als es vollbracht ist, als Frankreich Weltmeister ist, da brausen die Jungs und die Mädchen aus Bondy auf ihren Motorrollern und in klapprigen Kleinautos ziemlich euphorisiert und viel zu schnell zum Platz vor dem Rathaus, um ein Hupkonzert anzustimmen. An einem Renault Clio hängt eine Traube afrikanischstämmiger junger Männer. Fünf oder sechs sind es bestimmt. Einer schwenkt eine blau-weiß-rote Fahne und ruft: "Vive la France! Merci la France!" Danke Frankreich. Dann ruft er tatsächlich noch: "Aber Frankreich kann auch uns danke sagen!"

Danke für Kylian Mbappé, den 19-jährigen Wunderknaben der Équipe Tricolore, der hier in Bondy aufgewachsen ist. Sein Vater stammt aus Kamerun, die Mutter aus Algerien. Danke auch für all die anderen Nationalspieler, die aus verrufenen Pariser Vorstädten wie Bondy kommen und jetzt den Pokal geholt haben. Bis tief in die Nacht wird ein Teil der Jugend von Bondy vor dem grauklotzigen Rathaus feiern, das ein Transparent mit Mbappé-Foto schmückt.

Ein anderer Teil bricht gleich nach dem WM-Finale auf, um mit der Vorstadtbahn nach Paris hineinzufahren. Dort strömen die aus Afrika stammenden Peripherie-Franzosen auf dem Prachtboulevard Champs-Élysées mit den eher weißen Stadtzentrums-Franzosen zusammen. Alle gemeinsam, zu Hunderttausenden, geben sie sich dann einem rauschhaften Fest hin. Sie sind fröhlich, baden von Übermut und Alkohol besoffen in Brunnen, stimmen immer wieder Frankreichs Hymne an und bejubeln die Bilder der Spieler, die auf den Triumphbogen projiziert werden. Am Montagabend, als die Weltmeister auf den Champs-Élysées ihre Trophäe vorführen, ist es der gleiche Überschwang. Die Krawalle, mit denen Randalierer in Paris und anderswo stören, trüben die Freude nicht.

Es ist, als ob Frankreichs gesamte Jugend für einen kurzen Moment die Utopie von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zelebrieren wollte. Wobei die Devise der Republik schon vor dem Finale von manchen abgewandelt wurde in Liberté, Égalité, Mbappé, weil der Held aus Bondy wie die gesamte Mannschaft den Franzosen in den vergangenen Wochen einen nicht mehr so selbstverständlichen Teamgeist vorgelebt hat. "Ich will Frankreich verkörpern", hat Mbappé gesagt. "Ich will alles für Frankreich geben." Das ist ein Bekenntnis, und mit Mbappé bekennen sich an den Tagen des Siegesrauschs auch die Banlieue s.

Zugleich werfen diese Tage ein Schlaglicht auf das Verhältnis des Landes zu den Pariser Banlieues, den vielleicht größten Talentschmieden der Welt. Und damit auf das ambivalente - um nicht zu sagen: opportunistische - Verhältnis der Franzosen zum Fußball insgesamt. Denn im Land des neuen Weltmeisters ist dieser Sport gesellschaftlich weniger tief verankert als in Deutschland, England oder Brasilien. Seine einende Kraft entfaltet er nur, wenn die Bleus alle 20 Jahre ein wichtiges Turnier gewinnen.

"Diese Momente nationalen Hochgefühls sind sicher auch eine Art Gruppentherapie", sagt der Soziologe Stéphane Beaud, der seit Jahrzehnten zum Fußball forscht. "Sie sind eine Art, trotz Klassenunterschieden und regionalen Disparitäten die Angst vor der Vergangenheit und den Willen zu einer gemeinsamen Zukunft zu beschwören." Dennoch ist der naive Glaube an Heilung gesellschaftlicher Brüche durch eine sozial und ethnisch gemischte Mannschaft längst verflogen. 1998, nach dem ersten französischen WM-Sieg, gab es noch den Mythos Black-Blanc-Beur. Bis der rechtsextreme Front National bei der folgenden Präsidentschaftswahl so stark abschnitt wie nie zuvor. Und in den vergangenen Jahren wurde der Wille zur Einheit zwischen sogenannten einheimischen Franzosen und jenen aus Einwandererfamilien - soweit es ihn wirklich gab - von islamistischen Attentätern erschüttert.

Mbappé ist für die meisten ein trügerisches Versprechen

Im Stadion des AS Bondy, wo Mbappé groß wurde, verfolgen am Sonntag 3000 Menschen mit lauten Ahs! und Ohs! vor einer Großleinwand das Finale. Die Marseillaise vor dem Spiel haben viele textsicher und durchaus inbrünstig mitgesungen. "Wir sind Franzosen - und wir werden gewinnen!"

, brüllt ein Einheizer in ein Mikro. Laïd, 53 Jahre, Franzose mit Wurzeln in Algerien, verteilt blau-weiß-rote Fähnchen, Hüte, Tröten. Seinen Nachnamen mag er lieber nicht sagen. Die Fanartikel werden ihm regelrecht aus der Hand gerissen. Junge Frauen mit Schleiern, die bis auf das Gesicht den ganzen Körper verdecken, bemalen sich die Wangen mit der Trikolore. "Die heutigen Banlieue-Jugendlichen identifizieren sich noch mehr mit Frankreich als die vor 20 Jahren. Sie wollen daran keinen Zweifel lassen", beteuert Laïd. "Aber niemand hier macht sich Illusionen, dass die Regierung nach dem WM-Sieg mehr gegen Diskriminierungen und fehlende Jobchancen tut."

Also dass Frankreich der Banlieue irgendwie merci sagen könnte. Am meisten identifizieren sie sich in Bondy aber natürlich mit Kylian Mbappé, der in einem Sozialbau in der Avenue des Lilas direkt neben dem Stadion aufgewachsen ist. Mbappé ist das personifizierte - und für viele trügerische - Versprechen, dass man es schaffen kann, wenn man aus Bondy ist. Als der Sohn der Stadt das Tor zum 4:1 erzielt, dreht das ganze Stadion durch.

Frankreich, ein Land der Schönwetter-Fans

Mbappé hat kurz vor dem Endspiel in der Zeitung Le Monde klargemacht, dass er sich von ganz Frankreich so viel einheitsstiftende Leidenschaft wünschen würde, wie er sie aus Bondy kennt. Auch falls es mal nicht so läuft. "Wenn der Erfolg da ist, ist es ein Land der Fans", sagt Mbappé. "Das Problem ist, dass man sich in Frankreich nach Niederlagen schnell abwendet." Frankreich, Land der Schönwetter-Fans.

Es gibt Umfragen, die das flatterhafte Verhältnis zum Fußball belegen: Noch zwei Wochen vor Beginn der Weltmeisterschaft gaben 53 Prozent an, dass sie die Bleus nicht mögen. Eine Erklärung dafür, heißt es, seien die Nachwirkungen der Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika, als Frankreichs Spieler gegen ihren damaligen Trainer Raymond Domenech streikten. Mit dem Erfolg in Russland wendete sich plötzlich das Blatt. Vor ein paar Tagen nun versicherten 80 Prozent der Befragten, sie hätten ein positives Bild ihrer Nationalmannschaft. Nach Russland fuhren allerdings nur wenige, um das Team auch im Stadion zu unterstützen. Beim Halbfinale gegen Belgien wurden zum Beispiel nur 2000 französische Fans gezählt. Bei normalen Erstligaspielen im eigenen Land bleiben viele Stadien halbleer.

Und ausgerechnet das Französische, das sonst geradezu allergisch ist gegen Anglizismen, hat als einzige große europäische Sprache kein eigenes Wort für den populärsten Sport der Welt gefunden.

Le football, heißt er also. Für den Soziologen Beaud hat die anhaltende Distanz, die in diesen Tagen nur von einem nicht-aggressiven Nationalgefühl verdeckt werde, historische und soziale Gründe. Anders als etwa in Deutschland habe sich der Fußball selbst im Arbeitermilieu im 20. Jahrhundert erst nicht gegen andere Sportarten wie Radrennen durchsetzen können. Fußball, das ist in Frankreich bis heute ein Einwanderersport - also: ein Sport der Banlieues. Schätzungen zufolge gibt es allein in den Pariser Vorstädten 235 000 in Vereinen aktive Spieler. Dort geschieht die Nachwuchsarbeit, bevor die oft gerühmten Fußballinternate der französischen Klubs Talente wie Mbappé zu Jungprofis ausbilden. Beaud glaubt, dass schon die Kindheit in beengten Höfen trostloser Wohnsilos die Balltechnik dieser Spieler prägt. "Im modernen Fußball kommt es doch vor allem darauf an, schnell auf kleinem Raum spielen zu können", sagt er.

Wenigstens dazu soll die Misere also gut sein. Der Präsident des Fußballvereins von Bondy ruft die versammelten Zuschauer im Stadion am Sonntag auf, stolz zu sein. Nicht nur auf Mbappé, auch auf sich selbst. "Seien wir stolz auf unsere Banlieues, darauf, wo wir herkommen!", schreit er nach dem Abpfiff in die Menge. Vor ihm auf dem Rasen tanzen die Menschen und singen "On est les champions!" Wir sind die Champions. So gut ist die Stimmung selten hier. "Wir machen uns nichts vor, aber heute sind wir einfach glücklich", sagt Laïd, der Fähnchen-Verschenker.

Für Macron hätte es nicht besser laufen können

Im fernen Moskau stimmen die WM-Helden der Bleus in der Kabine des Luschniki-Stadions zur gleichen Zeit ihr eigenes Champions-Lied an. Mittelfeldstar Paul Pogba, auch ein Kind der Vorstädte, filmt es und verbreitet das Video im Netz. "Es lebe Frankreich, es lebe die Republik!", jubeln Pogba und die anderen Spieler. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ist in der Umkleide dabei. Auch für ihn, der immer die Einheit der französischen Gesellschaft beschwört, hätte es nicht besser laufen können.

1998, als sich ganz Frankreich das erste Mal wegen eines WM-Finalsiegs der Ekstase hingab, schossen die Umfragewerte des damaligen Präsidenten Jacques Chirac sofort in die Höhe. So ein blau-weiß-roter Sieg ist auch in einem Land mit für gewöhnlich beschränkter Fußballbegeisterung ein Politikum ersten Ranges. Erst recht, wenn die Banlieue solchen Anteil am Erfolg hat.

Die Festivitäten anno 2018 werden kurzzeitig überschattet von kleineren Krawallen, in Paris, Lyon und anderen Städten. Scheiben gehen zu Bruch, Geschäfte werden geplündert. Fast 300 Casseurs, "Kaputtmacher", werden von der Polizei festgenommen. Natürlich fällt der Verdacht schnell wieder auf jene, die aus den schlechteren Vierteln in die Innenstädte eingedrungen sind. Aber dieser Ärger ist am Montag - ausnahmsweise - schnell wieder vergessen.

Am Montagabend, nach dem vom Volk bejubelten Triumphzug der französischen Spieler über die Champs-Élysées, gibt Macron in seinem Präsidentenpalast einen großen Empfang zu Ehren der Spieler. Und zu Ehren ihrer Familien. Ach was, zu Ehren des Sports überhaupt. Die Begeisterung kennt keine Grenzen.

In Paris wie in den anderen Städten organisieren sich die Peripherie- und die Innenstadt-Franzosen auch ihre eigenen Triumphzüge, in denen jeder jedem zujubelt. Extra Applaus gibt es für: Hunde oder Babys, denen die Trikolore umgebunden wurde. Frauen mit Kopftuch, die sich von oben bis unten blau-weiß-rot angezogen haben. Menschen, die es geschafft haben, sich zu siebt in und auf einen Kleinwagen zu quetschen. Und für den jungen Mann, der seinen Freund mit Gipsbein im Rollstuhl vor sich herschiebt. "Machen Sie Fotos", ruft einer im Umtiti-Trikot ein paar Touristen auf dem Pont-Neuf zu, "Sie erleben etwas Historisches!"

Sie erleben, dass der Fußball König ist an diesen Tagen in Frankreich. König aller Franzosen. Macron ist nur Präsident.

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