FC Bayern in Madrid:Mit "wahnsinniger Wut" - aber ohne Beweise

Real Madrid CF v FC Bayern Muenchen - UEFA Champions League Quarter Final: Second Leg

Bedröppelte Bayern-Granden: Karl-Heinz Rummenigge (links) und Uli Hoeneß in Madrid.

(Foto: Bongarts/Getty Images)
  • Nach dem Champions-League-Aus in Madrid glaubt Bayerns Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge, sein Verein sei vom Schiedsrichter "beschissen" worden.
  • Wurde das Spiel bewusst verpfiffen? Wenn der deutsche Rekordmeister darauf Hinweise hat, sollte er konkreter werden.
  • Einen Bericht, wonach drei Spieler der Münchner nach Schlusspfiff die Schiedsrichter-Kabine stürmten, dementiert der Klub.

Von Claudio Catuogno, Madrid

Und das Mikrofon ist jetzt auch noch kaputt. Der Fuß des Torwarts gebrochen, der Traum vom Champions-League-Titel zerplatzt, die halbe Elf ein Fall für die Reha - und dann geht noch nicht mal dieses Sprechdingsbums, in das Karl-Heinz Rummenigge doch jetzt seine ganze Wut hineinschimpfen will, weit nach Mitternacht im Festsaal des Hotel Gran Meliá Palacio de los Duques. "Wahrscheinlich ein ungarisches Mikrofon", witzelt einer am Präsidententisch, an dem unter anderem Uli Hoeneß und der Trainer Carlo Ancelotti graugesichtig in eine sehr ferne Ferne starren, und Rummenigge, der Vorstandschef, nimmt den bitteren Scherz gerne auf: ja, wohl ein ungarisches Mikrofon.

So sauer waren sie im Münchner Lager auf den ungarischen Schiedsrichter Viktor Kassai und seine vier ungarischen Assistenten, dass das Wort "ungarisch" ihnen jetzt als Chiffre herhalten musste für alle Übel der Fußballwelt. Als Synonym für Totalversagen und, ja, auch: Betrug.

Es war dann für die Feiergesellschaft, der nicht zum Feiern zumute war, trotzdem zu verstehen, was Rummenigge zu sagen hatte. Er ließ einer historischen Nacht quasi eine historische Bankettrede folgen, historisch in ihrem Zorn und in ihrer Tragweite, so man sie denn wörtlich nimmt.

"Weil wir beschissen worden sind"

"Zeuge eines fantastischen Fußballspiels" sei man geworden, so begann Rummenigge. Erst mal loben. Das war angebracht. So viel Intensität bringen zwei Teams nur ganz, ganz selten auf den Platz wie der FC Bayern und Real Madrid am Dienstagabend im Estadio Santiago Bernabéu, wo die Münchner sich nach 90 Minuten eine 2:1-Führung erkämpft hatten, in der Verlängerung dann aber zu zehnt und entkräftet noch 2:4 untergingen. Nach zuletzt drei Halbfinal-Teilnahmen unter dem Trainer Pep Guardiola endet ihre Champions-League-Mission diesmal in einem Viertelfinale, das, wie man so sagt, auch ein würdiges Finale gewesen wäre.

Aber: "Wenn ich mir das Spiel anschaue", fuhr Rummenigge fort, "frage ich mich: Was machen eigentlich diese Verbände? Wir haben sechs Schiedsrichter auf dem Platz, sechs Schiedsrichter! Wir haben eine gelb-rote Karte, die nicht mal ein Foul war. Wir haben zwei Tore, zum 2:2 und 3:2, die im Abseits waren, und zwar im klaren Abseits, wir haben einen Abseitspfiff von Robert Lewandowski, der allein aufs Tor zuläuft ..."

Der Schlusspfiff war inzwischen mehr als anderthalb Stunden her, man muss also davon ausgehen, dass Rummenigge sich eher in eine kalkulierte denn in eine spontane Rage redete. "Ich muss sagen", musste er nun jedenfalls sagen, "ich habe heute zum ersten Mal so etwas wie wahnsinnige Wut in mir, Wut, weil wir beschissen worden sind. Wir sind beschissen worden heute Abend, im wahrsten Sinne des Wortes."

FCB-Chef Karl-Heinz Rummenigge

"Heldentum sieht man nicht im Sieg von großen Schlachten. Sondern im Ertragen von unglücklichen Niederlagen. Mehr braucht man heute nicht zu sagen."

Beschissen. So also endete ein Abend in Madrid, der sich, was die Dramatik auf dem Platz angeht, nicht verstecken muss hinter anderen historischen Rasenschlachten, die den Bayern in ihrer jüngeren Geschichte noch entglitten waren. Das Last-Minute-1:2 gegen Manchester United 1999. Das an den Pfosten gesetzte "Finale dahoam" 2012. Weshalb der Bayern-Boss nun mit einem - leicht abgewandelten - Zitat schloss, welches er irrtümlich dem Dichter Hugo von Hofmannsthal zuschrieb, in Wahrheit stammt es vom ehemaligen britischen Premierminister David Lloyd George: "Heldentum sieht man nicht im Sieg von großen Schlachten. Sondern im Ertragen von unglücklichen Niederlagen."

War Vidal in der Schiedsrichterkabine?

Wie aber haben die Bayern diese Niederlage ertragen? Jedenfalls sah sich der Klub am Tag danach veranlasst, die in die Welt gesetzte Behauptung zurückzuweisen, ein Münchner Trio mit Arturo Vidal, Thiago und Lewandowski habe die Schiedsrichterkabine gestürmt. Richtiger sei vielmehr, so die Auskunft der Madrider Polizei, Kassai haben die Security alarmiert, weil ein Bayern-Profi den Fuß in die Tür gestellt habe. Die Zeitung Marca schrieb zudem, Bayern-Profis hätten Kassai im Spielertunnel "auf jede mögliche Art beleidigt". Der FC Bayern wies dies als unwahr zurück und drohte Marca mit rechtlichen Schritten.

Unstrittig ist, dass Vidals gelb-rote Karte in der 84. Minute, als es bereits nach Verlängerung roch, die Partie zum Kippen brachte aus Sicht der Münchner, die sich ja schon beim 1:2 im Hinspiel eine halbe Stunde lang zu zehnt der Madrider Angriffswucht entgegenstemmen mussten, am Ende vergeblich. Tatsächlich hatte Vidal bei seiner wilden Grätsche gegen Marco Asensio erst den Ball erwischt und dann das Bein. Aber das war vorher auch ein paar Mal andersrum gewesen; spätestens Anfang der zweiten Halbzeit hätte Kassai den chilenischen Krieger zum Duschen schicken können. Die Wahrheit auf dem Platz ist manchmal vielschichtiger als die Empörung vor den Kameras.

Frühestes Aus seit 2011

Trainer Felix Magath

2004/05 Viertelfinale FC Chelsea (2:4/3:2)

2005/06 Achtelfinale AC Mailand (1:1/1:4)

Trainer Ottmar Hitzfeld

2006/07 Viertelfinale AC Mailand (2:2/0:2)

2007/08 Europa League

Trainer Jürgen Klinsmann

2008/09 Viertelfinale FC Barcelona (0:4/1:1)

Trainer Louis van Gaal

2009/10 Finale Inter Mailand (0:2)

2010/11 Achtelfinale Inter Mailand (1:0/2:3)

Trainer Jupp Heynckes

2011/12 Finale FC Chelsea (i. E. 3:4/1:1)

2012/13 Finalsieg Borussia Dortmund (2:1)

Trainer Pep Guardiola

2013/14 Halbfinale Real Madrid (0:1/0:4)

2014/15 Halbfinale FC Barcelona (0:3/3:2)

2015/16 Halbfinale Atlético Madrid (0:1/2:1)

Trainer Carlo Ancelotti

2016/17 Viertelfinale Real Madrid (1:2/ nV2:4)

Überhaupt, Vidal: Womöglich wird sich der Trainer Ancelotti jetzt auch fragen, ob er nicht besser den rot-gefährdeten Heiß-sporn ausgewechselt hätte anstelle von Xabi Alonso, um in Thomas Müller einen zweiten Angreifer zu bringen.

Real soll von der Schiedsrichter-Ansetzung gewusst haben

So trotteten nun im Stadionuntergeschoss nacheinander all die geschlagenen Bayern-Profis herbei, über die Rummenigge gerade im TV berichtet hatte, die Mannschaft liege in der Kabine "in Trümmern". Na ja, in Trümmern. "Ein bisschen martialisch", fand das der Verteidiger Mats Hummels, "aber klar, wir sind schon sehr enttäuscht". Da habe man "die letzten Reserven" aufgebracht - und dann erwische der Schiedsrichter "so einen eklatant schlechten Tag". Freundlich formuliert. Thomas Müller fand, Kassai habe schon "extrem eingepfiffen" in den Spielverlauf, und Arjen Robben nannte es "einen Wahnsinn, wenn ein Spiel entschieden wird durch solche Fehlentscheidungen". Ancelotti forderte auf der Pressekonferenz von der Uefa, entweder bessere Referees zu schicken oder den Videobeweis einzuführen. Was er den Ungarn nach dem Abpfiff gesagt habe? Trockene Antwort: "Good job!" Wenigstens ein bisschen Gelächter gab es da. Ancelotti lachte aber nicht mit.

Um Vidals Hinausstellung ging es bei diesen Klagen auch. Vor allem aber um die Ronaldo-Tore in der 105. und 109. Minute, die den Münchnern jede Hoffnung nahmen - nachdem sie erst durch einen Elfmeter von Lewandowski in Führung gegangen waren (53.) und kurz nach Ronaldos Ausgleich (76.) das 2:1 erzwungen hatten, ein Eigentor von Sergio Ramos (78.). Beim 2:2 stand Ronaldo sehr eindeutig im Abseits, aber auch nur sehr kurz, weil Douglas Costa die Verfolgung aufnahm. Das 3:2? Auch Abseits. Aber nicht so klar, wie Rummenigge behauptete. Nicht mal der Kommentator im FC-Bayern-TV hatte es gesehen. Und wie sehr man sich manchmal hineinsteigern kann in eine selektive Wahrnehmung, zeigte sich, als Hummels später von den Reportern mitgeteilt bekam, dass auch Lewandowski vor Ramos' Eigentor im Abseits stand. "Echt?", fragte Hummels, ehrlich erstaunt. Nun, das wäre dann ja "wenigstens ein schwacher Trost".

Sind die Bayern also "beschissen worden"? Bewusst verpfiffen? Wenn sie darauf Hinweise haben, sollten sie ein bisschen konkreter werden. Was zu hören ist: dass Real-nahe Kreise bisweilen schon vor der offiziellen Ansetzung durch die Uefa wissen - oder vorgeben zu wissen -, wer ihr Spiel leiten wird. Ein solcher Fall aus dem Jahr 2013 ist bei der Uefa aktenkundig und führte zu einem kurzfristigen Austausch. Und wenn man jetzt annimmt, dass auch die Bayern das wissen, sieht man manchen bösen Satz in einem etwas anderem Licht. Bisher konnten sie sich über Schiedsrichter ja eher nicht beschweren.

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