Thomas Dreßen:Bist du deppert!

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Zwischen Triumph und Trauer liegen oft nicht viele Rennen: Thomas Dreßen bei seiner Siegfahrt in Kitzbühel 2018 ... (Foto: Lisi Niesner/Epa/Rex/Shutterstock)
  • Thomas Dreßen hat als erster Deutscher seit Sepp Ferstl 1979 die Abfahrt in Kitzbühel gewonnen.
  • Laut Cheftrainer Mathias Berthold ist er dabei noch nicht einmal an sein Limit gegangen.

Von Johannes Knuth, Kitzbühel

Das Besondere an dieser Abfahrt spürt man spätestens dann, wenn man den Tunnel unter der Haupttribüne passiert und in den Zielraum eintaucht. Kurz ein Blick zurück auf die Tribüne, DJ Ötzi sitzt links, Schwarzenegger in der Mitte, Vizekanzler Strache rechts außen, aber die Promis, das macht es nicht aus, das Besondere. Es ist der Hang, der vor einem gen Himmel wächst. Und der Lärm.

15 000 Zuschauer drängen sich in Kitzbühel im Zielraum, 30 000 weitere stehen an der Strecke; ihr Geschrei ist auch von dem Wissen erfüllt, dass die ganze Welt gerade zuschaut. Alles verstärkt sich, kurz bevor diese Abfahrt beginnt, der Lärm im Tal, die Ruhe im Starthaus, die noch ruhiger wirkt, weil rundherum alles vor Vorfreude dampft. Die Fahrer sehen noch ein bisschen ernster aus als sonst, sie wissen, dass sie jetzt eine Chance haben, ihre Karriere auf ein neues Niveau zu heben. Und 100 Gelegenheiten, es zu verhauen.

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Thomas Dreßen vom SC Mittenwald war am Samstag als 19. dran; viele hatten sich schon damit abgefunden, dass der Schweizer Beat Feuz gewinnen würde. Dreßen war im Vorjahr in Kitzbühel im Steilhang gestürzt und so heftig ins Netz gerauscht, dass es alle schüttelte, die danebenstanden. Im Super-G war er ausgeschieden. Das war alles an Wettkampferfahrung, auf die er sich berufen konnte, als er in diesem Jahr anreiste, es war sein zweiter Auftritt in Kitzbühel.

Die Fahrer brauchen eigentlich Jahre, ehe sie die Streif bändigen, die viele kleine Gemeinheiten zu einer riesigen Gemeinheit zusammenknüpft. Und Dreßen? Fuhr am Samstag nicht so, wie 24-Jährige hier fahren. Er rauschte unaufgeregt ins Tal, fuhr sauber im Steilen wie im Flacheren, auch in der Traverse, wo die Fahrer ins Ziel schießen wie lebende Kanonenkugeln. Dann schwappte ein spitzer Schrei durchs Tal. Der erste Weltcup-Sieg? Auf der Streif? "Ich dachte", sagte Dreßen später, "die wollen mich verarschen."

Oder, frei übersetzt ins Österreichische: Bist du deppert?!

Die Siegerehrung am Abend zeigte dann mal wieder, wie ein Traum zur Realität werden kann und die Realität zur Erinnerung, Verklärung. Auch die Siegerehrung ist in Kitzbühel größer, die Fahrer stehen auf dem Balkon eines erleuchteten Hauses, von dort schauen sie in die Nacht, auf eine berauschte Menge. 20 000 waren da, die Österreicher schwenkten Fahnen und brannten Fackeln ab. Ihre Fahrer waren Vierter (Vincent Kriechmayr) und Dritter (Hannes Reichelt), oder, nach Österreichs Maßstäben: nicht Erster. Beat Feuz, der Zweite, packte Dreßens Hand, dann zog Feuz ihn auf die höchste Stelle des Podiums. Dreßen stemmte seine Trophäe in die Nacht, wie ein Fußballer, der das WM-Finale gewonnen hat. Ganz langsam. Als wolle er den Moment einfrieren. Dann Hymne und Feuerwerk. "Ich habe versucht, alles aufzusaugen", sagte Dreßen, "ich will alles im Kopf haben, wenn ich mal zurückdenke."

Dreßen ist keiner wie Hermann Maier

Wenn man vor etwas Unerwartetem steht, klammert man sich erst mal ans Bewährte. "Ich fühle mich jetzt nicht unsterblich, ich fühle mich auch nicht anders als davor", sagte der Sieger. Er ist noch immer derselbe Dreßen, aber einer, an dem jetzt dieses mächtige Etikett baumelt: Streif-Sieger, der erste Deutsche seit Sepp Ferstl 1979. "Oafach geil", sagte Dreßen, immer wieder. Später befand er: "Kitschiger geht's eigentlich nimmer."

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Thomas Dreßen ist keiner wie Hermann Maier, der sich animalisch in jede Abfahrt warf, keine Überfigur wie Felix Neureuther, der am Samstag Zaungast war ("Ich hatte noch nie so eine Gänsehaut"). Dreßen ist ein geerdeter Oberbayer, der in seiner Freizeit Motorrad fährt und mit seiner Freundin in Österreich am Traunsee wohnt, wegen der Ruhe und der guten Luft. Er lacht oft und viel, sagt oafach geil, wenn was oafach geil ist. Er ist einer, der motiviert ist, aber nicht überdreht, ruhig, aber nicht ängstlich. Er hat erfahren, dass das Leben manchmal größer ist als der Sport, auch wenn das eine Erfahrung war, die man niemandem wünscht. Sein Vater starb 2005 bei einem Seilbahnunglück in Sölden, aber Dreßen machte weiter, es war ja ihr gemeinsamer Traum gewesen: dass er irgendwann im Weltcup fährt. Seine Mutter blieb ein großer Rückhalt, sie sagte das, was auch der Vater gesagt hatte: "Du hast keinen Druck. Aber wennst was machst, machst es gscheit."

Als Dreßen Anfang 2015 in den Weltcup stieß, hatten sie beim Verband gerade neue Chefs bekommen, Mathias Berthold als Cheftrainer der Männer und Christian Schwaiger als Disziplintrainer Abfahrt. Zwei Österreicher, denen ihr Heimatverband ein bisschen zu groß war. Im Deutschen Skiverband konnten sie in Ruhe arbeiten; die Techniker um Neureuther waren stark, aber von den chronisch erfolglosen Abfahrern, sagte Sportdirektor Wolfgang Maier seinen Trainern damals, könne man in naher Zukunft nicht allzu viel erwarten. Einen Streif-Sieg eh nicht. Berthold und Schwaiger sahen das nicht ein. "Ich möchte die Jungs in vier Jahren so weit haben, dass sie um Olympiamedaillen mitfahren können", sagte Berthold, das klang so unglaublich, dass es fast den Tatbestand der Rebellion erfüllte. Na und? "In diesem Sport hast du immer eine Chance", sagt Schwaiger, er lebt das seinen Fahren täglich vor. Das kannten sie so nicht.

Auch Schwaigers Theorie der Abfahrt war für sie ungewohnt: Bevor man schnell und mutig geradeaus fahren dürfe, lehrt er, müsse man erst mal einen guten Riesenslalom-Schwung beherrschen (den seine Fahrer nur bedingt fuhren). Aus dieser Kurvenfertigkeit erwachse alles Weitere: Vertrauen ins eigene Können, Lust am Risiko. Dreßens Ausbildung wurde zum Fallbeispiel. Schwaiger gewöhnte ihm erst den riskanten Fahrstil ab, verordnete ihm viel Krafttraining, aber nicht zu viel, schulte die Skitechnik, führte ihn wieder ans Risiko heran. Heute findet Dreßen, 1,88 Meter, 100 Kilo, auf den Eisautobahnen fast immer eine Lösung, und wenn die erste nicht funktioniert, hat er instinktiv eine zweite parat. Oder eine dritte. Das können nur wenige, etwa der Schneestreichler Feuz. Als Dreßen im vergangenen November Dritter in Beaver Creek wurde - es war der erste Podestplatz der Abfahrer unter Berthold - war das so, als habe einer nach vielen kleinen Schritten die Mauer zur Weltspitze eingerissen. Dreßens Teamkollege Josef Ferstl gewann bald den Super-G in Gröden, und am Samstag ging fast unter, dass Andreas Sander, der Konstanteste der vergangenen Winter, erst in der Traverse einen Podestplatz vergab und Sechster wurde.

Dreßen ist keiner mehr, der sich selbst überholt, die Trainer ließen ihn auch in Kitzbühel ein paar Kurven bewusst nicht am Limit fahren. "Wir wollen nicht, dass Thomas an die hundert Prozent rangeht", sagte Berthold, "er ist noch jung." Das war die vielleicht erstaunlichste Facette dieser Geschichte: Dass da einer bereits im zweiten Versuch die Streif gewinnt - und mit gedrosseltem Motor fährt. Andererseits: Die PS, die ihm zur Verfügung stehen, nutzt er halt so gut wie kaum ein anderer, Dreßen lerne schnell, sagte Berthold, ihn erinnere das an Matthias Mayer. Mayer wurde 2014 Olympiasieger, er war 23, Trainer der Österreicher damals: Berthold. Ob Dreßen für Olympia im Februar nun ähnlich favorisiert sei? Nun, die Strecke sei eine andere, sagte Berthold. Aber wegdiskutieren könne man die Favoritenrolle auch nicht.

Dreßen verzichtet auf ACDC

Christian Schwaiger, ihr ruhiger und hochseriöser Abfahrtstrainer, erzählten sie im DSV am Sonntagmorgen, sei nach den Feierlichkeiten übrigens erst mal nicht auffindbar gewesen.

Wer einen Streif-Sieger aufgebaut hat, wirft Ballast ab. Die Sprüche der Kollegen, als Schwaiger die Abfahrer übernahm. Den Frust, als Neureuther und Stefan Luitz zu Beginn des Winters die Kreuzbänder rissen. Die tödlichen Stürze der Abfahrer David Poisson und Max Burkhart, 17. Ein Sieg auf der Streif taucht alles, was war und was noch kommt, in ein anderes Licht, wer könnte das besser wissen als Sepp Ferstl, Vater von Gröden-Sieger Josef Ferstl und Dreßens Vorgänger? "Kitzbühel ist das Höchste", sagte Ferstl am Samstag im Ziel, schwarze Mütze, grauer Bart. Er ist fast jedes Jahr hier, wer einmal in Kitzbühel gewonnen hat, wird immer wieder eingeladen, er wird Teil eines Freilichtmuseums. "Nach zehn Jahren erinnert sich fast niemand mehr an WM-Medaillen, aber an den Streif-Sieger erinnern sich die Leute", sagt Ferstl. Und der Skisport braucht deutsche Sieger, der deutsche Markt ist reich an Sponsoren und TV-Quoten. "Dass ein Deutscher mal wieder Kitzbühel gewinnt", sagte der Österreicher Reichelt, "ist unglaublich wichtig für unseren Sport."

Dreßen wurde am Samstag noch mal nach der Ruhe und dem Lärm gefragt, wie er sich am Start vorbereitet habe. Mit Heavy-Metal-Musik, er möge ja ACDC? Nein, sagte Dreßen, "vor dem Start bin ich eher ein ruhiger Typ". Zu seinem Wochenende passte eher Jimmy Cliff, man muss es wohl so kitschig sagen: "You can get it if you really want", sang Cliff, "you must try, try and try. You'll succeed at last."

© SZ vom 22.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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