Deutschland im EM-Halbfinale:Dieses Team ist besser als jeder Matchplan

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Gegen Italien entwickelt sich ein Viertelfinale wider jede Erwartung - zum Glück. Der Bundestrainer hatte den Spielverlauf eigentlich ganz anders geplant.

Kommentar von Sebastian Fischer

Es war früh in der zweiten Halbzeit dieses denkwürdigen Viertelfinals, als Joachim Löw zur italienischsten aller Gesten griff. Die Arme hatte er vor der Brust angewinkelt, die Hände auf Schulterhöhe, Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger an beiden Händen zusammengedrückt. Löw monierte hektisch das Zweikampfverhalten der deutschen Spieler, und zum ersten Mal an diesem Abend fingen die Kameras einen Ausdruck in seinem Gesicht ein, der nach Angst aussah.

Angst, dass sein Plan doch nicht aufgehen würde und ihn das Gerede vom deutschen Trauma wieder einholen würde, auch von seinem Trauma im EM-Halbfinale 2012. Doch das Italien-Trauma ist besiegt, weil dieses Viertelfinale kein Spiel für Pläne war.

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Löws Matchplan sah lange aus wie genau der richtige. Eine Ochsen-Abwehr gegen die luft- und zweikampfstarken italienischen Stürmer, das Zentrum verdichten, abwartend spielen: Italienisch spielen gegen die Italiener. Doch dann verletzte sich Sami Khedira, und der erste Plan war dahin. Für das Verdichten des Zentrums war jetzt der alte Fahrensmann Schweinsteiger zuständig. Wenn man das geplant hätte, es wäre natürlich falsch gewesen.

Die Hauptdarsteller vergessen ihren Text

In der zweiten Halbzeit dann die Tore, Symbolbilder eines Spiels wider jeder Erwartung: Ein Angriff, mit einem Befreiungsschlag von Manuel Neuer eingeleitet, Mario Gomez ist auf dem Flügel, wo ihn Löw nicht aufgestellt hat; spielt einen filigranen Pass, wofür ihn Löw nicht aufgestellt hat. Über Jonas Hector kommt der Ball zu Mesut Özil in die Strafraummitte, wo ihn Löw nicht aufgestellt hat - und trifft. Doch genauso zufällig fällt auch das Gegentor, durch ein Handspiel von Jérôme Boateng. Ein nicht zu coachendes Spiel kann man nicht vercoachen.

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Gomez wird zum filigranen Vorbereiter (und um ein Haar der filigrane Torschütze, hätte er mit der Hacke getroffen); Boateng, der beste Abwehrspieler der Welt, macht einen anfängerhaften Fehler. Es war nicht das Spiel der erwartbaren Helden, diese Erzählung fand im dramatischsten aller möglichen Enden ihren Höhepunkt. Müller, Özil, Schweinsteiger - Löw nominierte für das Elfmeterschießen natürlich die logischen Schützen. Und doch war es falsch, sie verschossen, Müller und Schweinsteiger kläglich. Kimmich und Hector, die Jungen und Unerfahrenen, sie mussten in die Hauptrollen schlüpfen, weil die Hauptdarsteller im entscheidenden Moment ihren Text vergaßen, und weil es den Italienern nicht anders ging: ausgerechnet der großartige Bonucci scheiterte.

Ein Erfolg im ersten Elfmeterschießen überhaupt gegen eine italienische Mannschaft, ein Erfolg nach einer flammenden Ansprache auf dem Rasen von Joachim Löw, ein glücklicher Erfolg im Angesicht des Ausscheidens, ein Erfolg der Mentalität - so etwas kann in einem Turnier große Kräfte freisetzen. Doch noch etwas anderes bleibt von diesem Abend von Bordeaux, das Löws Mannschaft nun bis ins Finale tragen kann: Sie ist am Samstagabend am Ende besser gewesen als der bestmögliche Plan ihres Trainers.

© SZ vom 03.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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