Brasilien nach dem WM-Aus:Gott ist Brasilianer - und er weint

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Fassungslosigkeit in tausenden Gesichtern, mitten in Rio de Janeiro. (Foto: AP)

Es herrscht Katerstimmung in Rio de Janeiro nach der schlimmsten Niederlage in der Geschichte des brasilianischen Fußballs. Die meisten bleiben ruhig, müssen erst einmal verstehen. Doch nicht alle Fans können gut mit der Katastrophe umgehen.

Von Konstantin Kaip, Rio de Janeiro

Kurz nachdem Schiedsrichter Marco Rodríguez in Belo Horizonte die größte Niederlage in der Geschichte der brasilianischen Nationalmannschaft bei einer WM abgepfiffen hat, bricht auch der Himmel in Rio in einen Weinkrampf aus. Sintflutartig, mit der Gewaltigkeit eines Monsuns, ergießt sich der Regen über die Stadt, der in der zweiten Halbzeit noch in feinen Fäden gefallen war. Als könne selbst Gott, der Brasilianer, nicht mehr an sich halten vor Traurigkeit. "Schau dir den Regen an", sagt Rosani Cunha Gomes, "selbst die Natur weint für Brasilien".

Die 58-Jährige sitzt im Trockenen, an einem Tisch im "Sindicato do Chopp" gegenüber dem Strand, wo die Bewohner von Leme das Spiel auf zwei Großbildfernsehern verfolgt haben. Dazu gab es reichlich gezapftes Bier, wie die leeren Gläser und ihr glasiger Blick verraten. Sie hat das Halbfinale mit ihrer Schwester, ihrem Schwager, ihrem Neffen und seiner Frau verfolgt. Rosali trägt wie die meisten im Lokal ein gelbes Trikot, dazu ein grün-gelbes Stirnband. Die Schminke auf ihren Wangen ist leicht verwischt.

Normalerweise hat man im "Sindicato" Mühe, sein eigenes Wort zu verstehen. Die Cariocas, wie die Einwohner von Rio genannt werden, reden gerne recht laut miteinander. Am Dienstagabend aber schweigen viele vor sich hin. Die Fassungslosigkeit steht ihnen ins Gesicht geschrieben. "Ich bezweifle, dass irgendjemand auf dieser Welt diesen Ausgang vorausgesehen hätte", sagt Rosani Gomes.

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Ihr Neffe findet dann doch einen Ansatz, das Debakel zu erklären: "die Aufstellung". Scolari hätte das Mittelfeld stärken sollen, findet Diego Rebello Salles. Stattdessen habe der Trainer Bernard für Neymar gebracht. Der habe zwar mal bei Atletico Mineiro in Belo Horizonte gespielt, aber er sei einfach kein guter Stürmer. Und die Deutschen, das wisse jeder, seien eben im Mittelfeld besonders stark. "Sie haben Schweinsteiger, Khedira, Özil. Und Müller kommt ja auch aus der Mitte", doziert der 28-Jährige. Trotzdem: "Der Spielstand ist einfach absurd."

Nur sechs Minuten hat es gedauert, um den Traum von 200 Millionen Brasilianern vom Titel im eigenen Land zu zerstören: Nach dem 0:1 von Müller in der elften Minute glaubte das Land zwar noch an eine Antwort seiner Mannschaft um den Aushilfskapitän David Luiz. Stattdessen aber kassierte die Seleção zwischen der 23. und der 29. Minute weitere vier Tore. Die Deutschen hatten ausgerechnet die Abwehr, die große Stärke des Gastgebers, nach Lust und Laune vorgeführt.

"Wie gegen eine Jugendmannschaft im Training" hatte Ronaldo auf dem Sender TV Globo kommentiert. Auf dem Platz spiele nur eine Mannschaft: die in Schwarz-Rot. "Ein guter Marketingtrick" sei das gewesen mit den Hemden in den Farben von Flamengo, findet Diego Salles. Aber obwohl er selbst glühender Flamengista ist, wie er bekennt, sei er fortan für Holland. "Die haben es verdient - und noch nie eine Weltmeisterschaft gewonnen." Seine Tante will im Finale den Deutschen die Daumen drücken.

Nicht alle Fans können so gut mit der Katastrophe umgehen: In São Paulo werden sechs Busse angezündet, eine Gruppe zündet die Nationalflagge an. Im Umfeld der Fanmeile kam es im strömenden Regen zu tumultartigen Szenen. Medien berichten von einem Raubzug ("arrastao") mehrerer Diebe. Das Polizeiaufgebot wurde verstärkt, es gab sieben Festnahmen. Vor dem Mannschaftsquartier in Teresópolis, wo sonst immer Hunderte Fans auf den Bus der Seleção gewartet haben, steht ein einsamer Außenreporter. Hinter ihm seien gerade 32 Mann einer Spezialeinheit der Militärpolizei eingetroffen, sagt er. "Sicherheitsvorkehrungen für eventuelle Reaktionen der Fans."

Im "Sindicato" sitzen auch zwei angetrunkene Damen mittleren Alters, die schwören, sich im Oktober bei der Präsidentenwahl "an der Urne" für das Ergebnis zu "bedanken", als habe Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT die Mannschaft aufgestellt.

Die meisten aber müssen erst einmal verstehen, was sie gerade erlebt haben. Dass Brasilien verliert, sei an sich keine Überraschung gewesen, meint Alan Raposo. "Jeder Brasilianer, der etwas von Fußball versteht, hat das irgendwie erwartet." Luiz Felipe Scolari hätte eben erfahrene Mittelfeldspieler gebraucht, wie Kaká und Ronaldinho, findet der 27-Jährige. Aber sein Festhalten an dem Team, das im Confed-Cup so begeisternd gespielt hat, habe sich nun gerächt - mit einem totalen Blackout der unerfahrenen Spieler in der ersten Halbzeit.

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"Sieben zu eins", sagt Raposo kopfschüttelnd. "Das ist einfach zu viel." Unter seinem Regenschirm trägt er eine weiße Pappschachtel: Kuchen für seine Familie, ein bisschen süßer Trost, um die Niederlage zu verdauen. Ein "pornografisches Ergebnis" befand die Satiresendung "Extraordinários" auf SporTV - Kinder hätten nicht zusehen dürfen.

Es dauert nicht lange, bis Brasilien ein Wort gefunden hat für diese Schmach: "Mineiraço". Schon am Abend ist der Begriff auf den Internetseiten der Presse zu lesen, in Anlehnung an das "Maracanaço", die Niederlage gegen Uruguay von 1950 im Maracanã, die nun, im Schatten des schlechtesten Halbfinals aller Zeiten, von den Kommentatoren erstmals als ehrenvoll bezeichnet wird. Auf dem Titel der größten Zeitung O Globo vom Mittwoch wird das Wort dem Anlass entsprechend eingedeutscht: "Mineiratzen".

Am Morgen nach der historischen Niederlage herrscht Katerstimmung in Rio. Gelegentlich ist der höhnische Knall eines Böllers zu hören: Irgendwie müssen die Kracher ja weg, mit denen sich die Fans eingedeckt haben. Nun müssen sie tapfer sein. Beim Bäcker oder am Zeitungskiosk sind viele Menschen im Nationaltrikot zu sehen.

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