Fußball-EM:Belgiens Talente entsprießen der Perspektivlosigkeit

Lesezeit: 4 min

Auf dem Weg nach ganz oben? Belgiens Romelu Lukaku (M.) steht für eine außerordentlich talentierte belgische Nationalmannschaft. (Foto: Emmanuel Dunand/AFP)
  • Die belgischen Nationalmannschaften leben von der Jugendarbeit des RSC Anderlecht.
  • Der Verein bildet immer wieder Talente aus, die in den europäischen Top-Ligen landen.
  • Das "Purple Talents Project" ist ein besonderes Förderprojekt. Es setzt da an, wo die Politik versagte und hilft jungen Fußballern aus einem schwierigen Umfeld.

Von Sebastian Fischer, Brüssel/München

Sollte die belgische Nationalmannschaft in Frankreich noch erfolgreich sein, dann ist das auch ein wenig das Verdienst des Hamburger SV. Jedenfalls wenn man Peter Smets glaubt, einem belgischen Spielerberater, der die Geschichte von Vadis Odjidja-Ofoe erzählt. Heute ein Ergänzungsspieler in England, galt der Mittelfeldspieler 2008 als Talent - und wechselte mit 19 vom RSC Anderlecht zum HSV. Beim Serienmeister aus Brüssel sagten sie: So geht es nicht weiter, Talente dürfen uns nicht mehr verlassen. Nicht mehr so früh jedenfalls. Und: Wir müssen mehr für sie tun.

Acht Jahre später ist die Jugendabteilung des RSC Anderlecht eine der besten Europas und der zuverlässigste Lieferant für die Nachwuchsteams der belgischen Nationalmannschaft. Im EM-Kader von Trainer Marc Wilmots sind zwar aufgrund der Verletzung des Kapitäns und früheren RSC-Jugendspielers Vincent Kompany nur drei in Anderlecht ausgebildete Akteure - Stürmer Romelu Lukaku, dessen jüngerer Bruder Jordan und Abwehrspieler Jason Denayer. Aus Genk, Berschoot und Lüttich kommen je fünf.

Aber in den U-Nationalmannschaften dominieren die Spieler des Meisters, allein fünf waren jüngst mit der U 17 bei der Europameisterschaft in Aserbaidschan. Die U 19 des RSC war in dieser Saison zum zweiten Mal in Serie im Halbfinale der Youth League, der Champions League für Nachwuchsspieler. Und Mittelfeldspieler Youri Tielemans, 19, ist eines der am heftigsten umworbenen Talente Europas.

Anderlecht akquiriert in Molenbeek, das als Keimzelle des Extremismus gilt

Ja, sagt Jean Kindermans, Anderlechts Nachwuchskoordinator ins Telefon: Natürlich sei er stolz. Was auch daran liegt, dass seine Arbeit auch noch eine andere, eine politische Dimension hat: Molenbeek ist nur ein paar Kilometer weg vom Trainingszentrum des RSC Anderlecht, zahlreiche Nachwuchsspieler des Klubs werden dort akquiriert. Kindermans sagt über den Stadtteil, der als Keimzelle des Extremismus gilt: "Wir sind glücklich, dass wir dort so talentierte Fußballer finden."

Fußball
:Wie mir der Fußball den Weg aus der Unbeweglichkeit zeigte

Unser Autor war ein Pummelchen ohne Selbstvertrauen - dann kam der Jugendfußball. Über die eigentliche Bedeutung dieses Sports.

Von Thomas Hahn

Kindermans, 51, und Smets, 48, trieben vor acht Jahren das sogenannte "Purple Talents Project" voran, benannt nach Anderlechts Vereinsfarbe lila: Kindermans schon damals als Jugendleiter, Smets, der zuvor als Lehrer arbeitete, als "sozialer Helfer" der Spieler. Heute ist "Purple Talents" ein anerkanntes Programm und Vorbild in Belgien. Die Spieler, das war die Grundidee, sollten mehr trainieren können als vorher, ohne viel mehr Zeit für den Fußball aufwenden zu müssen. Und sie sollten sozial gefestigt sein, abgesichert auch für eine Karriere abseits des Fußballs.

Der Klub schickte seine Trainer an die kooperierenden Schulen im Umkreis, ließ sie dort in Kleingruppen trainieren, anstatt sie zum Training nach Anderlecht fahren zu lassen. Das brachte ihnen 540 anstatt 360 Trainingsminuten in der Woche und ermöglichte dem Verein ein Versprechen an die Eltern, sagt Kindermans: "Wenn Ihr Sohn am Ende nicht stark genug ist, dann hat er einen Abschluss." Die Zusammenarbeit mit den Familien, die soziale Betreuung der Spieler, das ist der Teil des Projekts, der über den Fußball hinaus exemplarisch ist. "Hinter der fußballerischen Idee steckte eine menschliche", sagt Smets, der inzwischen wieder selbstständig arbeitet.

Und diese menschliche Seite ist es nun, die in Zeiten, in denen die belgische Hauptstadt nach den Anschlägen von Paris und Brüssel als Hauptstadt des Terrors in den Schlagzeilen steht, besonders eindrucksvoll ist. Der Fußball zeigt eine andere Seite der Stadt, eine andere Seite auch von Molenbeek. Smets beschreibt es so: "Wenn dort zwei alte, hässliche Häuser stehen, dann spielen dazwischen zwei Kinder Fußball. Und sie spielen so gut, dass du denkst: Oh mein Gott, was kann ich denen noch beibringen?"

So etwas zum Beispiel: Neulich haben die inzwischen vier hauptamtlich beschäftigten Sozialarbeiter des Klubs mit den 10- bis 12-Jährigen ein Seminar veranstaltet, das die Kinder im Umgang mit sozialen Netzwerken schulte. "Wir müssen den Kindern beibringen, dass das nicht die echte Welt ist", sagt Kindermans. Wenn er und seine Kollegen das Gefühl haben, Kinder würden in einem schwierigen Umfeld aufwachsen, dann sprechen sie die Eltern an. Das Purple-Talents-Projekt begann mit 17 Spielern. Stürmer Romelu Lukaku, der in Frankreich für Belgien die Tore schießen soll, war einer der Ersten. Heute werden mehr als hundert Kinder und Jugendliche von sechs bis 21 Jahren betreut, knapp 40 leben in Gastfamilien.

"Zwei Füße und ein gesunder Kopf reichen"

Der RSC Anderlecht sei ein "großer Schmelztiegel der Kulturen", sagt Kindermans. Nicht nur die Spieler des Klubs bilden die Vielfalt der belgischen Hauptstadt ab, sondern auch die Trainer und Vereinsmitarbeiter kommen aus Nord- und Zentralafrika, sprechen französisch und flämisch und englisch - und alle fühlen sich als Belgier. "Hautfarbe oder Religion sind nicht so wichtig", sagt Kindermans, der früher selbst Profi war, "zwei Füße und ein gesunder Kopf reichen."

Der prominenteste Fußballer, der mit dem Brüsseler Stadteil in Verbindung gebracht wird, ist Kompany. Der verletzte Nationalmannschaftskapitän verbrachte seine Jugend in Molenbeek, das erzählte er nach den Anschlägen von Paris CNN in einem Interview, ihn störte die stigmatisierte Darstellung der Stadt. Es sei "offensichtlich vieles schrecklich schief gelaufen in Molenbeek", sagte er, doch das sei auf Fehler der Politik zurückzuführen: Politiker seien immer nur alle sechs Jahre vor der Wahl da gewesen, um ein rotes Band vor einem neuen Spielplatz durchzuschneiden. "Da war immer ein Gefühl der Ungerechtigkeit", ein Gefühl, in Molenbeek ausgegrenzt zu werden. Dabei seien dort so viele Menschen in der Lage, "so viele tolle Dinge zu tun". Es scheint, als habe der Fußball etwas erkannt, was die Politik jahrelang versäumt hat.

Kompany soll in Frankreich in Belgiens Viererkette übrigens der gebürtige Brüsseler Denayer vertreten, der von Manchester City gerade an Galatasaray Istanbul ausgeliehen ist und zur nächsten Saison wieder in die Premier League zurückkehrt. Denayer, 20, spielte nur für zwei Jahre beim RSC Anderlecht, dort hielten sie ihn für einen Stürmer. Er verließ den Klub im Sommer 2008 als Dreizehnjähriger. Genau dann, als auch ein gewisser Vadis Odjija-Ofoe nach Hamburg ging - und in Brüssel alles anders wurde.

© SZ vom 05.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Nordirischer Nationalspieler
:"Will Grigg's on fire!"

Nordirlands Nationalstürmer Will Grigg ist so populär, dass die Fans ein Lied für ihn getextet haben. Die Neu-Interpretation von "Freed from desire" steht auf Platz sechs der britischen Download-Charts.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: