Streetart in Philadelphia:Bunter kann man eine Stadt kaum ausmalen

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Kunst ist überall in Philadelphia zu finden, auch in den hintersten Winkeln und an Parkplätzen. (Foto: Jörg Buschmann)

In keiner US-Metropole gibt es mehr öffentlich zugängliche Wandgemälde als in Philadelphia. Eine Reise in das Bilderlabyrinth.

Von Harald Hordych, Fotos: Jörg Buschmann

Wenn Isaiah Zagar sein riesiges Atelier verlässt, dann verlässt der Künstler sein Privatmuseum. Die "Magic Gardens", gelegen in einer beschaulichen Wohnstraße südlich der City von Philadelphia, sind eine verwirrende Mischung aus Materialgebirge, Bilderlabyrinth und artifizieller Müllhalde, ein glitzernder Kosmos, erbaut aus allen möglichen Arten von Flaschen, Steinen, Alltagsgegenständen wie Fahrradfelgen oder Tonkrügen, umrahmt von Keramikkacheln und Keramikscherben, aus denen und auf denen Körper und Gesichter gezeichnet oder geformt sind. Gern auch Penisse und Vaginas, die man aber nicht erkennt, solange man nicht vom Künstler verschmitzt darauf hingewiesen wird. Dieses Gemäldelabyrinth versteckt seine Kunst eher.

Das ändert sich, wenn man auf die Straße tritt und das andere Isaiah-Zagar-Museum kennenlernt. Dazu genügt es, die South Street entlangzulaufen, egal in welche Richtung, egal um welche Ecke man auch biegen mag, egal zu welcher Tageszeit, und natürlich immer zum Nulltarif: Das zweite große Museum, das an die 200 Kunstwerke von Isaiah Zagar zeigt, heißt Philadelphia. Vor allem rund um die South Street, an der die "Magic Gardens" liegen, wirkt die Stadt wie eine öffentliche Isaiah-Zagar-Installation: An Häuserwänden und Hauseingängen, neben Autowerkstätten und Restaurants, mitunter gar an ganzen Häusern hat sich seine Kunst wie ein freundlicher Pilzbewuchs ausgebreitet.

USA-Reise
:Streetart in Philadelphia

Tausende Wandegemälde sind über die US-Metropole verteilt.

Fotos: Jörg Buschmann

Der Mann, der für diese quietschbunte, lebhafte, den Sex, die Kunst, die Musik und nicht zuletzt das Leben feiernde, zweifelsohne auf den ersten Blick fröhlich stimmende Malerei verantwortlich zeichnet, ist 77 und so zappelig und energiegeladen wie ein 20-Jähriger. Vorausgesetzt, man kann sich einen 20-Jährigen mit einem schlohweißen, wuscheligen Bart vorstellen. Früher, erzählt Zagar, sei er ein überzeugter Minimalist gewesen, je weniger ein Bild zeigte, desto besser. "Am Ende war das beste Bild eine leere weiße Leinwand, auf der nicht mal mehr ein Strich war. Nichts."

Aber dann kam eine große künstlerische und persönliche Krise, ein Suizidversuch und schließlich Woodstock, die Drogen und mit ihnen der Wunsch, vom Nichts, das man erst mal auf Dauer aushalten muss, auf das große Ganze, auf alles umzuschalten. "Ich nutze jedes Material, das ich finde, ich kontrolliere nichts, es ist wie ein Abenteuer!" Und dann sagt er: "Ich möchte, dass ganz Philly so aussieht, weil meine Kunst wie ein Wald ist, wie ein Canyon. Und sie kommt von den Menschen, sie sollen sich mit der Kunst wohlfühlen, weil alles darin von ihnen selbst kommt."

Früher war Isaiah Zagar Minimalist. Jetzt ist seine Kunst bunt, lebhaft, unzüchtig - und in der Stadt allgegenwärtig. (Foto: Jörg Buschmann)

Wie auch immer die so unverkrampfte wie naive Mosaikkunst und das Lebensgefühl der fünftgrößten Metropole der USA zusammenpassen mögen - der in Philadelphia geborene und aufgewachsene Zagar wird seine Heimatstadt nicht mehr in ein einziges großes Zagar-Kunstwerk verwandeln können. Selbst diesem rastlosen Mann, der mit seinem Team zehn bis fünfzehn Wandgemälde im Jahr im wahrsten Sinne unter die Leute bringt, sind Grenzen gesetzt. Denn der Eroberer leerer Flächen ist nicht allein mit seiner Idee. Philadelphia ist die Stadt in den Vereinigten Staaten mit den meisten großflächigen, öffentlich zugänglichen Wandgemälden. Mehr als 3600 gibt es bereits. Und jedes Jahr kommen neue dazu, angefertigt von mehr als 300 Künstlern, die jährlich im Mural Arts Program beschäftigt werden. "Welthauptstadt der Wandgemälde", behauptet die PR-Abteilung der Ostküstenstadt. Und tatsächlich fällt es schwer, sich vorzustellen, dass irgendeine Stadt auf dem Globus so bunt ausgemalt sein könnte wie diese.

Was das Mural Arts Program bewirkt hat und weiter bewirken wird, kann man praktisch an jeder beliebigen Stelle der 1,5-Millionen-Stadt besichtigen. In der City genügt ein Spaziergang, um überall auf die Bilder zu stoßen, die von verschiedensten sozialen und ethischen Gruppen produziert werden. Wobei die historischen Szenen, die idyllischen Panoramen, das Mahnen gegen Rassismus, das Erinnern an prägende Figuren der Stadthistorie am ehesten dort übersehen werden können, wo Geschäfte, Hotels und Wolkenkratzer für visuelle Ablenkung und Aufregung sorgen - mag die Kunst teilweise noch so meisterlich an die Wände geworfen sein. Der Platzmangel in der Innenstadt verhindert das Gigantische, das an anderen Stellen viel Raum findet. Zum Segen der Stadt und der Menschen, weil die Kunst tatsächlich eine Menge zur Überwindung trostloser Städtetopografie beiträgt.

An vielen fensterlosen Brandmauern, die auf öde Parkplätze oder menschenleere Plätze weisen, sind seit 1986 gewaltige Panoramen entstanden. Das Hahnemann University Hospital hat seine Kehrseite in eine Schauseite verwandelt. Im Stil eines realistischen Gruppenfotos ist ein mindestens 20 Meter hohes und an die 60 Meter breites Bild entstanden, das von Krankheit und Schicksal gezeichnete Menschen zeigt. Gemeinsam hoffen sie auf ein besseres Los.

SZ-Karte (Foto: N/A)

Nur wenige Meter weiter entfaltet sich an Hinterhöfen und anderen Blindflecken einer modernen amerikanischen Großstadt fantastistische, surreale, abstrakte Malerei, als ob die Träume, die eine Gesellschaft in sich trägt, plötzlich Gestalt annehmen. Denn Philadelphia mag eine der ältesten Städte der USA sein, in den Ziegelsteinhäusern aus dem 18. Jahrhundert wurde die Unabhängigkeitserklärung verfasst, hier steht die legendäre Liberty Bell und zehn Jahre lang war sie die Hauptstadt des jungen Staates, bevor Washington diese Rolle zufiel. Aber Philadelphia ist auch eine Stadt der Hochhäuser und wuchtigen Zweckbauten inmitten einer wenig aufeinander abgestimmten Stadtlandschaft mit ihren wie leer gefegten Parkplätzen. Und hier entfaltet das Mural Arts Program seine stärkste Wirkung.

An unwirtlichen Plätzen wie dem, der gleich um die Ecke des Hospital-Gemäldes zu finden ist, wo zerstückelte Gebrauchsarchitektur, wahllos nebeneinandergestellt, den Rahmen für ein surreales Panoptikum bildet, das von drachenähnlichen Vögeln, rosarotschimmernden Walzen der Schwerindustrie, Bäumen, die Wasserscheiben in ihren Kronen tragen, bevölkert wird. Eine Mahnung zum Umweltschutz. Alles ist erlaubt in dieser Kunst, Hauptsache, sie langweilt nicht. Auch wenn augenfällig ist, dass nicht selten Institutionen die Wandgemälde als Botschafter der guten (eigenen) Sache in Auftrag geben und sponsern.

Entstanden ist diese Kunst kurioserweise aus der Absicht, eine ganz andere Art von Farbauftrag zu verhindern. Das Programm wurde im Auftrag der Stadt entwickelt, um wahllos hingeschmierten Graffiti den Platz zu nehmen. Gleich gegenüber des fantastischen Umweltgemäldes auf der anderen Seite des riesigen Parkplatzes ist ein abstraktes Piktogramm zu sehen, daneben bringt ein Breitwandgemälde von Isaiah Zagar Stimmung in die Tristesse. Celly Telila, 30, einer der Parkwächter steht bewegungslos auf der weiten Fläche. Wenn man ihn auf die Gemälde anspricht, kommt Bewegung in seinen Körper und vor allem seine Hände; lächelnd weist er auf die bunten Flächen und findet sie einfach nur "great". Genau das mache den Unterschied zu anderen Städten, sagt Telila.

Dafür ist ein großer Aufwand erforderlich. Gerade bei den handwerklich sehr aufwendig ausgeführten, oft nur mit Hilfe von Sponsoren ermöglichten Wandgemälden sind mehrere Maler sechs bis acht Wochen damit beschäftigt, die Farbe direkt auf die Wand aufzutragen. Projektoren werfen die Skizzen an die Wände. Regelmäßig veranstaltet die Stadt öffentliche Mal-Tage, während der bis zu 50 freiwillige Helfer an einem einzigen Gemälde Hand anlegen.

Der Erfolg rechtfertigt all diese Mühen. Die Stadt wird ästhetisch aufgewertet, sie kann als etwas Schöneres und Erhabeneres erlebt werden, gerade wo man es nicht erwartet. Ein ebenso schöner Nebeneffekt ist, dass ein Amerika abgebildet wird, das gleichberechtigt die unterschiedlichsten Schichten zeigt. Gerade das Amerika, das Clinton dem Vereinfacher und Ausgrenzer Trump gern entgegengehalten hat.

Und abgesehen vom ästhetischen und ideellen Gewinn gibt es tatsächlich so etwas wie messbaren Erfolg. Tourguide Donnell Powell berichtet, dass die Zahl der durch Schmierereien verschandelten Wandgemälde verschwindend gering sei, er liege bei höchstens drei Prozent, auch außerhalb der schicken Innenstadt mit ihren zahllosen Boutiquen und Restaurants, auch in sozial weniger begünstigten Gegenden, wo nachts ein wirrer Graffiti-Zug schnell aufgetragen ist. Schneller jedenfalls als jedes der Gemälde, die so viele Wände in der Stadt schmücken.

© SZ vom 12.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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