Schweizer Kanton Tessin:Fantasia? Lago Maggiore!

Auf den Brissago-Inseln im Tessin wachsen Pflanzen aus fünf Kontinenten - dank einer russischen Exzentrikerin.

Von Stephanie Schmidt

Nur ein paar Schritte sind es von der Anlegestelle der Insel, und schon ist man in einer anderen Welt. Wer sie betritt, beginnt unweigerlich zu schnuppern: Hier duftet es lieblich, dort würzig-herb. Bald tauchen Sumpfzypressen auf, und ein Urwald mit Baumfarnen. Schon vor mehr als 150 Millionen Jahren wuchsen die kräftigen Stämme mit den großen gefiederten Blattwedeln auf der Erde. Die Luft ist mild und feucht. Ein Gefühl, als wäre man in einem fernen Land. Nein, man ist nicht in den Tropen, sondern im Tessin. Genauer gesagt auf den Brissago-Inseln im Lago Maggiore.

Pflanzen aus aller Welt wachsen im botanischen Garten des Kantons Tessin auf der größeren der beiden Inseln. Er erstreckt sich über die gesamte Insel San Pancrazio, die die Einheimischen auch Isola Maggiore nennen. Das grüne Reich umfasst eine Fläche von knapp 25 600 Quadratmetern, die Nachbarinsel Isola di Sant'Apollinare ist nur 8200 Quadratmeter groß.

Die Flora fünf verschiedener Kontinente auf einer Insel vereint - das ist so besonders, dass der botanische Garten eine der meistbesuchten Attraktionen des Tessins ist. Auf dem blühenden Eiland verändert sich immer etwas. Neu ist zum Beispiel "Il Giardino Magico" - ein Garten mit Wasserdampf- und Lichtinszenierungen. Das gefällt nicht nur Kindern, das Schauspiel betört auch Erwachsene. Und seit Kurzem können Kinder im botanischen Garten auf Schatzsuche gehen und einer Karte folgen, die zu geheimnisvollen Pflanzen führt.

Doch warum überleben so viele exotische Pflanzen im Parco botanico del Canton Ticino? Das liegt am subtropischen Klima in dieser Region: Charakteristisch sind hier sonnenreiche Sommer mit gelegentlich heftigen Gewittern und Winter, in denen die Temperaturen selten unter die Null-Grad-Grenze sinken. Außerdem schützen die Bergketten um den Lago Maggiore den Garten vor zu viel Wind.

Im Frühling, Sommer und Herbst bringen Linienboote Ausflügler mehrmals täglich zu den felsigen Inseln. In wenigen Minuten gleitet Airone, der Reiher, von Porto Ronco am Ufer des Lago Maggiore zur Anlegestelle der Isola Maggiore. An Bord ist auch Pflanzenexpertin Maria Pia Aerne. Schon seit mehr als 20 Jahren führt die Tessinerin Besucher durch das grüne Reich. Während der Überfahrt erklärt sie, was es mit der kleineren Insel Sant'Apollinare auf sich hat: "Touristen können sie nicht besuchen, hier sollen besondere Pflanzen ungestört wachsen können. Nur die Gärtner dürfen nach Sant'Apollinare." Beide Brissago-Inseln waren "mit hoher Wahrscheinlichkeit schon in der Römerzeit besiedelt", ergänzt sie.

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Hier ein grünes Exemplar von "Buddhas Hand".

(Foto: Veronica Laber)

Auf der Isola Maggiore beeindruckt schon die Artenvielfalt der Zitrusgewächse. Maria Pia Aerne weist besonders auf "Buddhas Hand" hin, eine Pflanze, die intensiv nach Zitronenblüten riecht. Dieser Duft steht in Kontrast zur bizarren Form der Frucht des Zitrusgewächses: Sie ist sattgelb, hat zahlreiche gekrümmte Finger und könnte auch als Krake durchgehen. "Buddhas Hand" stammt aus dem Fernen Osten und ist eine der Raritäten, die auf den Brissago-Inseln im Lago Maggiore gedeihen.

Es kommen aber nicht nur Pflanzenliebhaber, sondern auch Menschen, die Geschichten von schillernden Charakteren hören wollen.

Mein Vater, der Zar

Etwa die Geschichte der in St. Petersburg geborenen Baronin Antonietta Saint Léger, womöglich eine uneheliche Zarentochter. Sie und ihr Ehemann Nummer drei, der irische Diplomat Baron Richard Fleming de Saint Léger, erwarben 1885 die Brissago-Inseln. Die Baronin ließ auf San Pancrazio einen exotischen Garten anlegen. "Dafür musste sie tonnenweise Erde in Schiffen auf die Insel transportieren lassen", sagt Signora Aerne.

Die russische Baronin bezeichnet sich in ihrem Buch "The vegetation on the Island of Saint Leger in Lago Maggiore" als Tochter des Zaren Alexanders II. Künstler und Literaten lud Antonietta in ihren Garten ein - zu Gast waren etwa Rainer Maria Rilke, James Joyce oder Richard Wagners Witwe Cosima. Doch trieb ihr ausschweifender Lebensstil die Baronin in den finanziellen Ruin: 1927 musste sie die Inseln an den Hamburger Geschäftsmann Max Emden verkaufen - ihr Gatte hatte sich da längst vom Acker gemacht, weil er Antoniettas Launen und Affären überdrüssig war.

Emden ließ die Insel zu seinem persönlichen Garten Eden umgestalten. "Er liebte die Botanik - und die Frauen", sagt Aerne mit melancholischem Lächeln. "Seine Frau hat es nicht ertragen, dass er so viele Geliebte hatte, deshalb zog sie in ein Häuschen auf die Nachbarinsel Sant'Apollinare."

Pflanzenexpertin Signora Aerne steuert auch eine Eukalyptus-Wiese, einen Teich mit Lotusblumen und Schildkröten und einen Bambus-Hain mit auffallend kräftigen Stämmen an. "Wenn es im Sommer besonders feucht und warm ist, kann der Bambus innerhalb von 24 Stunden etwa 25 bis 30 Zentimeter in die Höhe schießen", erklärt sie. Plötzlich entdeckt man Proteen. Ein Besucher weiß sofort: "Jetzt bin ich in Südafrika." Die Pflanzenkennerin zeigt auf eine Geranienart namens pelargonium crispum, die Thymian ähnelt. "Im wirklichen Südafrika gibt es 450 Geranienarten", sagt die 75-Jährige. Hier im botanischen Garten wäre für sie zu wenig Platz. Inmitten der südafrikanischen Vegetation hat man einen Ausblick auf das Dörfchen Pino am Ufer, welches bereits zu Italien gehört.

Signora Aerne kennt einen Großteil der mehr als 1600 Pflanzenarten des botanischen Gartens - und weiß, wie verschiedene Gewächse verarbeitet werden. "Das ist Bergamotte, ihr ätherisches Öl wird in der Parfümerie verwendet", erklärt sie. Patissiers verwandeln Zitronen der Sorte "Buddhas Hand" in kandierte Früchte für den Panettone. "Das hier ist Mönchspfeffer", sagt die Tessinerin, während sie auf blauviolette Blüten zeigt. "Im Mittelalter hat man die Samen des Mönchspfeffers den Mönchen gegeben - das sollte ihnen den Appetit auf Sexualität nehmen." Ob sie auch den Ordensbrüdern, die bis etwa Mitte des 16. Jahrhunderts auf den Brissago-Inseln lebten, verabreicht wurden, ist nicht bekannt. "Die Mönche fuhren in die umliegenden Dörfer, um Kranke zu pflegen, denn Ärzte waren damals für viele Menschen zu teuer", erzählt Aerne.

Auf der Isola Maggiore zog mit dem Hamburger Max Emden der Luxus ein: Er ließ auch die neoklassizistische Villa mit Restaurant im Herzen von San Pancrazio errichten. Zu dem renovierten Anwesen gehören ein Restaurant mit Terrasse, Räume für Seminare und Feiern sowie ein paar Hotelzimmer. Wenn man das Glück hat, Mitglied einer Festgesellschaft zu sein und in der Villa zu übernachten, kann man die ganze Pflanzenwelt in einem Garten in ruhiger Abendstimmung genießen. Die Tagesausflügler sind dann längst zu anderen Ufern aufgebrochen.

Info

Den Botanischen Garten der Brissago-Inseln kann man besuchen, solange Ausflugsschiffe auf dem Lago Maggiore unterwegs sind. Dies ist jedes Jahr von Ostern bis Ende Oktober der Fall. Wegen der angenehm warmen Temperaturen in dieser Jahreszeit bietet sich ein Besuch im Herbst an. Vom Ort Brissago braucht das Schiff nur circa fünf Minuten, von Porto Ronco zehn, von Ascona 15 und von Locarno 30 Minuten bis zum Ziel. Die Webseite www.isolebrissago.ch liefert erste Eindrücke vom botanischen Garten und der Gastronomie.

Hinweis

Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.

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