Mallorca:Meister aller Klassen

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Mallorca bleibt das Chamäleon unter den Urlaubsregionen - bei jedem neuen Stil ist die Insel ein Trendsetter.

Harald Hordych

Vor nicht gar so langer Zeit lag Mallorca noch weit weg von Deutschland. Mitte der fünfziger Jahre, die Deutschen entdeckten gerade, dass man von München aus genau so schnell an der Adria ist wie in Düsseldorf, zu dieser aufregenden Zeit war Mallorca noch mehr als 2000 Kilometer entfernt, und zwar gefühlte, richtige 2000 Kilometer, die man per Zug oder Auto hinter sich bringen musste.

Mallorca
:Ballermann, Betonburgen, Badebuchten

Die Insel steht bei machen für Beton und Ballermann. Dennoch gibt es auch hier traumhafte Plätze.

Damals war Mallorca eine unentdeckte Insel, die dem Reiselustigen sogar noch eine Seereise von Barcelona aus abverlangte. Wenn der VW Käfer mit von der Partie war, wurde er aufwendig mittels Kran ins Schiff gehoben und in Palma wieder auf den Kai gesetzt.

Mallorca war Exotik und Luxus, eine wilde Insel mit weiten, feinkörnigen Sandstränden und einer geheimnisvollen Hauptstadt. Ein Traumziel für wenige Leute mit Zeit oder Geld oder am besten: viel von beidem.

Einbindung in den Öffentlichen Nahverkehr

Der Gedanke hat heute etwas Irrwitziges, denn 30 Jahre später stand Mallorca kurz davor, als "Putzfraueninsel" in den westdeutschen Staatsverband aufgenommen zu werden. Das scheiterte damals wohl nur, weil das Sommerloch nie groß genug war, um dieses Bestreben konsequent in die Tat umzusetzen.

Auf andere, wenngleich indirekte Weise aber wurde die Aufnahme in den deutschen Staatenbund dann doch vollzogen: Mittels großräumiger Verkehrsflugzeuge, die für Billigtarife mehrmals täglich von vielen deutschen Städten auf die Insel fliegen, gelang die Einbindung in den Öffentlichen Nahverkehr (Linie LTU).

Und im Bewusstsein vieler Rentner hat sich hartnäckig der Irrglaube eingenistet, es gebe ein Land auf der Welt, in das man auswandern könne, ohne die Mühen eines Auswanderers auf sich nehmen zu müssen, weil man im Mallorca-Land den deutschen Kulturkreis nicht verlasse, wie die Redakteurin der Mallorca Zeitung Brigitte Kramer einmal gesagt hat.

Sehnsuchtsort Nummer 1

Solche Selbstbetrügereien beweisen nur, dass Mallorca nach wie vor der Sehnsuchtsort Nummer 1 der Deutschen ist. Keine Urlaubsregion außerhalb Deutschlands lockte, wie im letzten Jahr geschehen, 3,4 Millionen deutsche Touristen an. Wohlgemerkt, die Rede ist nicht von Übernachtungen, sondern von Menschen, die in einem Jahre dorthin gereist sind.

Wenn man diese Urlauber sucht, geht man natürlich zuerst zur Playa de Palma, dem kilometerlangen Strand in der Bucht von Palma, wo sich Hotels aneinanderreihen.

Was man dort sieht, kennt man aus dem Fernsehen: Am Balneario 6 ("Ballermann") werden deutsche Schlager gespielt, die man längst für ausgestorben gehalten hat. In der Schützenstraße, gleich dahinter, tanzen Go-go-Girls auf Biertischen.

Die Männer tragen mannschaftsweise die gleichen T-Shirts, stehen dicht beisammen und wiegen mal stumm, mal laut die Köpfe hin und her. Wenn diese Männer plötzlich der Entdeckerdrang befallen sollte, eine Sehnsucht nach dem Unbekannten, steigen sie einfach in ein Taxi nach Spanien.

Sie verlassen die deutsche Heimat für ein paar Stunden und machen einen Ausflug in ein fremdes Land, sie fahren nach Palma. Dort können sie plötzlich die Straßenschilder nicht mehr lesen, hauen auf Deutsch dunkelhaarige Menschen an, fragen nach "der großen Kathedrale" - und ernten ein barsches Schulterzucken.

Natürlich gibt es hier Bars und Restaurants, die sich auf Touristen eingestellt haben, aber es sind mallorquinische Gaststätten, keine deutschnationalen Filialen, und darüber hinaus ist Palmas Innenstadt mit seinen Cafés und Plätzen, seinen Geschäften und Restaurants eine vollkommen eigenständige, reiche katalanische Stadt.

Was das bedeutet, diese Lektion lernt der deutsche Tourist schnell: Zweisprachigkeit heißt hier, sich bei Hinweistafeln zwischen der Landessprache Spanisch (Kastilisch) und dem Mallorquinischen, einem Dialekt des Katalanischen, entscheiden zu können. Und nicht zwischen Französisch und Deutsch.

Und das, obwohl ein paar Kilometer weiter acht Monate lang der rheinische Karneval mit bayerischem Aufwand gefeiert wird - Heimat und Ferne in einer Bucht.

Parallelwelten

Wissenschaftler wie der Professor für Touristik-Management Helmut Wachowiak von der Fachhochschule Bad Honnef/Bonn nennt so etwas "Segregierung". Die Abgrenzung in vollkommen eigenständige Lebensbereiche, die nichts miteinander gemein haben: Parallelwelten.

Mallorca hat davon nicht nur zwei, sondern viele. Im Fall Mallorca kommt es immer darauf an, sagt Wachowiak, welches Segment gerade von den Medien nach vorn geholt werde.

Die Hotelkästen ließen die ganze Insel in den Achtzigern billig erscheinen, der Ballermann machte sie zu einer Tankstelle für Vergnügungssüchtige, heute wirkt es im Fernsehen und in den People-Magazinen wie Bunte, als stolpere man hier an jeder Ecke über einen Golfschläger schwingenden Prominenten.

Mallorcas Popularität hat Helmut Wachowiak bewogen, die erste große repräsentative Langzeitbefragung von Mallorca-Touristen durchzuführen. So etwas hat es noch nicht gegeben. Dabei sei Mallorca wegen seiner Vielseitigkeit bestens dafür geeignet: "Die Insel bietet Attraktionen für den Massentourismus, deckt aber auch alle Minisegmente des Nischentourismus ab", sagt der Wissenschaftler.

Wie ein großes Warenhaus, das jeden Stil vorrätig hat: Der sonnenhungrige Pauschaltourist fühlt sich hier (wie Millionen Engländer und Skandinavier auch) ebenso aufgehoben wie der Wohlhabende, der Golf, Wellness und Segeln genießen will und im Fünf-Sterne-Hotel absteigt. Dazu kommen die Sport- und Naturfreunde, vom Radfahrer bis zum Wanderer.

Prominenter Inselbewohner Boris Becker beim Golfen auf Mallorca. (Foto: Foto: AP)

Aus diesem Grund hält Helmut Wachowiak Mallorca für ein ideales Touristik-Laboratorium, in dem sich die wandelnden Wünsche des reisenden Deutschen perfekt beobachten lassen.

Mehr als 10.400 ausführliche Interviews haben Wachowiak und seine Mitarbeiter über acht Monate auf der Insel und in Flugzeugen geführt beziehungsweise via Internet interaktiv ermöglicht. Die Regierung der autonomen Region Balearen stattete sie sogar mit offiziellen Ausweisen aus, wenn sie am Strand, in Fußgängerzonen und Hotels nach den Regeln des Zufallsprinzips ("Jeder Zehnte, der am Papierkorb vorbeigeht") Interviews führten.

Aber abgesehen von Tourismusunternehmen und den sehr regen und geschäftstüchtigen mallorquinischen Strukturförderern sieht Wachowiak in dem noch lange nicht ausgewerteten Datenkonvolut auch einen prächtigen Stoff für deutsche Soziologen.

Ob dabei am Ende der gläserne Mallorca-Tourist herausgekommen ist, sei dahingestellt. Die Skala der beliebtesten Aktivitäten belegt auf jeden Fall, dass Mallorca längst für etwas anderes steht als Ballermann und Cala Ratata, wie rheinische Fußballclubs gern den Badeort Cala Ratjada nennen, wenn sie ihn bei der Saisonabschlussfeier besetzen.

Nicht trinken bis der Arzt kommt und sonnen bis die Haut brennt - am liebsten wollen die befragten Mallorca-Touristen sich ausruhen, was wenig verwunderlich ist, aber fast ebenso gern wollen sie Landschaft und Natur genießen. Es schließt sich der Wunsch an, die Gegend zu erkunden und regionaltypische Gastronomie zu suchen. Erst dann folgt - deutlich zurückliegend - "viel am Strand liegen."

Die Mediterranisierung Deutschlands

Dieses Ergebnis nennt Wachowiak "faszinierend". Es spiegele eine Entwicklung wider, die er die Mediterranisierung Deutschlands nennt. "Eine Entwicklung, die von hier aus nach Mallorca reingewirkt hat und mehr mit unseren Sehnsüchten zu tun als mit Mallorca."

Mallorca hat nämlich das Glück, durch seine Vielseitigkeit im touristischen Lotteriespiel eine ideale Projektionsfläche für den Wandel der Wünsche beim reisenden Publikum zu bilden. Die Insel wirkt wie das Chamäleon unter den Touristikdestinationen.

Mallorca hat offenbar das Kunststück geschafft, sich in unserer Wahrnehmung in ein neues Terrain verwandelt zu haben, das nun wie eine terra incognita mit Gebirgslandschaften, pitoresken Dörfern und behaglichen Fincas lockt. Der begehrliche Blick sei von den Stränden der Insel fortgewandert, erklärt Wachowiak, hinein ins Landesinnere zu kulturellen Ereignissen, Lebenskultur, mallorquinischer Küche.

Die Leute können immer das in Mallorca sehen, was sie gerade sehen wollen. Aktuell seien das eben die Ausformungen des mediterranen Lebensstils: der hohe Stellenwert einer gesunden, leichten Küche, Terracotta in allen Formen, gedämpfte warme Farben, kalt gepresstes Olivenöl, die Lust auf das beschauliche Leben im Dorf.

"Dabei können die wenigsten die mallorquinische von der spanischen Küche unterscheiden", erklärt Wachowiak. Das mache aber nichts, Hauptsache, in der großzügigen Vereinnahmung der katalanischen wie der kastilischen Kultur gilt die spanische Küche nicht mehr als "schwer und Fett mit Öl".

Bedenkt man nun, dass 30 Prozent der Befragten angegeben haben, mindestens zehn Mal auf Mallorca gewesen zu sein und 90 Prozent sagten, sie würden in den nächsten drei Jahren wiederkommen, könnte das Glück der Urlaubsregion Mallorca fast vollkommen sein.

Mund-zu-Mund-Propaganda wirkt

Denn nach wie vor, so Wachwoiak, ist der wichtigste Werbefaktor für eine Urlaubsregion der Bericht von Freunden und Verwandten. Und wer nochmal und nochmal und nochmal wiederkommt, der hat auf jeden Fall Positives zu berichten.

Von einem Traumergebnis aber spricht Wachowiak bei der Nennung einer dritten Zahl: 43 Prozent waren zum ersten Mal auf der Insel: Obwohl sie so berühmt sei, ziehe sie immer noch so viele neue Gäste an. "Die Insel ist eine sich selbst fütternde Maschine."

Und die Maschine frisst ihre selbst hergestellten Klischees als Nachspeise gleich mit: "Die Daten widerlegen viele Vorurteile, die man von Mallorca hat", sagt Wachowiak. Das Bild von der "Putzfraueninsel" ist nicht mehr zu halten, weil die Qualitätsoffensive der Regierung in der Interpretation von Wachowiaks Zahlen Früchte getragen hat.

Fast 40 Prozent sind in Vier-Sterne-Hotels abgestiegen. Und von den Befragten, die eine Angabe zum Beruf machten, ist jeder vierte Berufstätige selbstständig. Die Arbeiter sind mit 3,2 Prozent unterrepräsentiert, über 40 Prozent sind Angestellte.

Mallorca wird teurer, behält dennoch die alten Kunden und zieht weiter neue an, während die Dauer, ab der sich für die Befragten ein Verweilen lohnen würde, auf fünf Tage geschrumpft ist. Was zeigt, wie "psychologisch nah" die Insel gerückt ist. Hat diese Befragung überhaupt negative Punkte zu Tage gefördert? Mehr als die Hälfte der Touristen mieteten sich einen Wagen, mit dem sie im Durchschnitt mehr als 400 Kilometer pro Urlaub zurücklegten. Kein Wunder, dass "zur Hauptsaison 30.000 Mietwagen auf die Insel gebracht werden".

Zu den komischsten Mallorca-Momenten gehört, wenn Leute anfangen, ihr Auto auf einem Parkplatz zu suchen. Farbe, Fabrikat und Größe scheiden als Kriterien aus, weil alle Autos klein, weiß und ein Opel Corsa sind.

Hier gibt es auch noch etwas Einmaliges: Staus, die aus kleinen Autos bestehen, in denen schwitzende Touristen sitzen. Die Autobahnen, die nun gebaut werden, um auch diese Fahrzeugströme aufzunehmen, sind sehr umstritten, weil sie nicht ins mediterrane Idealbild passen, erläutert der promovierte Geograph, der sich als Tourismus-Raumforscher sieht und mit der Umfrage nachhaltigen Tourismus fördern will.

Aber mit diesem Ideal nehmen es die Deutschen ohnehin nicht immer so genau: Auf die Frage, was der Tourist auf der Insel vermisst hat, fiel als Antwort auffallend oft das Wort "Schwarzbrot".

© SZ vom 22.7.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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