Ideologie:Das Bedürfnis nach Gerechtigkeit hat seine politische Heimat verloren

Armut in Berlin

Obdachlosigkeit ist nur eine Form von Armut: Gerechtigkeit war einmal das Grundanliegen der Linken.

(Foto: Paul Zinken/dpa)

Weil die klassische Linke gescheitert ist, können sich jetzt Rechtspopulisten als einzige Alternative zum Marktliberalismus aufspielen. Die Epoche der Ideologien ist zu Ende. Sie hat irrwitzigen Konstellationen Platz gemacht.

Kommentar von Sebastian Schoepp

Kurz vor seinem Tod 1942 im Exil ließ der Schriftsteller Stefan Zweig "Die Welt von Gestern" auferstehen, jene der großen Imperien, die er gekannt hatte und die spätestens mit dem Zweiten Weltkrieg untergegangen war. Viel deutet darauf hin, dass es erneut ansteht, eine "Welt von gestern" zu verabschieden: nämlich jene, die den Regeln der Nachkriegszeit gehorchte. Eine postideologische Epoche ist angebrochen, in der sich etwa ein formal kommunistisches China als turbokapitalistische Warenschleuder gebärdet. An die Stelle des Rechts-links-Schemas beginnt in vielen Ländern - auch in Deutschland - ein neuer Dualismus zu treten, nämlich der zwischen einem im weitesten Sinne liberalen und einem identitären Lager.

Die Konstellationen, die daraus folgen, sind erst undeutlich zu erkennen. Klar ist nur, dass die meisten Menschen ihre politische Position, ja ihre Verortung in der Welt, neu werden bestimmen müssen. Das kann mit Qualen verbunden sein, wie die SPD feststellen muss, deren Mitglieder derzeit entscheiden, ob sie weiterhin und möglicherweise endgültig im liberalen Lager aufgehen oder Werten treu bleiben, die keine Mehrheit mehr erringen.

Das ist eine direkte Folge des Sieges der freien Marktwirtschaft und des digitalen Dataismus. In der Welt von heute wird das Leben "vom liberalen Paket aus Individualismus, Menschenrechten, Demokratie und freiem Markt beherrscht", wie der Historiker Yuval Noah Harari feststellt. Wobei mit "liberal" ein viel breiteres Spektrum gemeint ist als das der FDP. Es geht eher um jenes, das von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, den spanischen Ciudadanos und dem Merkelismus repräsentiert wird: Es ist eine Art Sammlungsbewegung derer, die mit der Welt des freien Daten- und Warenflusses, offenen Grenzen und schrankenloser Mobilität zufrieden sind und auch glauben, davon zu profitieren.

Die SPD nutzte die rechnerische linke Mehrheit nicht

Verliererin ist die Linke. 1997 führten Sozialdemokraten zwölf Regierungen in der EU, heute sind es drei: die von Portugal, Schweden und die in Italien, die die Wahlen Anfang März kaum überstehen wird. Die Regierungen der Slowakei und Rumäniens sind nur dem Namen nach sozialdemokratisch. Griechenlands linke Regierung hat sich dem Druck Brüssels gebeugt und betreibt knallharte Realpolitik, weil ihr nichts anderes übrig bleibt.

In Deutschland gab es noch nach der Bundestagswahl 2013 eine rechnerische linke Mehrheit, die die SPD aber nicht nutzte, weil sie sich schon damals weniger als linke Partei identifizierte denn als sozialpolitisches Gewissen des liberalen Blocks. 2017 stand dann bereits vor der Wahl fest, dass es im Grunde egal war, ob man CDU, SPD, FDP oder Grüne wählte, es kam am Ende immer Merkel heraus. Das hat am Ende die AfD - und nicht die Linke - zur größten Oppositionspartei gemacht; so wie in Frankreich nicht mehr die Sozialistische Partei, sondern der Front National sich als Alternative zu Macron geriert.

Es gibt ein wachsendes Gerechtigkeitsbedürfnis - aber dieses ist politisch heimatlos

Der Niedergang der Linken ist umso erstaunlicher, als es eigentlich ein wachsendes Gerechtigkeitsbedürfnis auf der Welt gibt. Doch dieses ist politisch heimatlos. Schon der Postmarxismus von Ernesto Laclau und Thomas Piketty war keine originär linke Ideologie mehr, sondern forderte eine Marktwirtschaft mit menschlichem Antlitz. In Lateinamerika und Südeuropa erlebte der Postmarxismus in den Nullerjahren und kurz danach eine Blüte. Gescheitert ist er, weil er nur mit Abschottung und Autarkie funktioniert. Sich aber außerhalb des gängigen Wirtschafts- und Finanzsystems zu stellen, hält heute außer Nordkorea keiner mehr durch.

Inzwischen wird die freie Waren- und Datenwelt von den meisten Menschen akzeptiert, wenn nicht begrüßt. "Vergessen Sie die Revolution, die Leute wollen ihr iPhone", sagt der spanische Soziologe Manuel Arias Maldonado. Umwälzungen sind nicht erwünscht, wenn sie mit Verzicht einhergehen. Auch diejenigen, die am Ende der Lohnpyramide stehen, brauchen den Packerjob bei Amazon, um zu überleben. Und andere Jobs hatten auch die Postmarxisten nicht zu bieten.

Antikapitalismus, früher fester Bestandteil des Linksseins, ist längst eine Attitüde mehr inmitten der liberalen Vielfalt, wohlfeil wie das Che-Guevara-Shirt im Internet-Shop. Heute definiert sich eine dynamisch-mobile Linke über Werte wie Minderheitenschutz, Feminismus, Transparenz, die genauso gut als liberale Forderungen durchgehen. Das Scheitern der klassischen Linken aber war die Voraussetzung dafür, dass sich Rechtspopulisten nun als einzige Alternative zum Marktliberalismus aufspielen können. Ja, sie stahlen der Linken Kapitalismuskritik und Antiamerikanismus - und fügten den Fremdenhass hinzu.

Vielleicht lernen die Liberalen von den alten Linken

Die ideologische Heimatlosigkeit vieler Wähler hat irrwitzige Konstellationen entstehen lassen: Donald Trump etwa ist im Diskurs ein Identitärer, wirtschaftlich aber könnte er mit argentinischen Linksperonisten konkurrieren. Ein europäischer TTIP-Gegner müsste Trump wegen dessen Abschottungspolitik zujubeln; geht aber nicht - denn es ist ja Trump. In Ungarn kokettieren die Rest-Linken mit den Identitären von Jobbik, um die anderen Identitären von Viktor Orbán zu stoppen. In Katalonien haben sich Parteien aller Couleur unter dem identitären Banner gefunden, um das kleine Katalonien von der bösen, korrupten Welt abzukapseln.

Mit solchen Herausforderungen muss der Liberalismus lernen umzugehen. Denn allen Segnungen der Freiheit zum Trotz: Es gibt in vielen Menschen jene Sehnsucht nach Gerechtigkeit, familiärer Verankerung und Identität, die im Rausch der Datengeschwindigkeit eher wächst. Das war schon im 19. Jahrhundert so, als die Industrialisierung als Gegenbewegungen die Romantik hervorrief. Empathie entwickeln, Menschen einbinden, die sich ängstigen um ihren Job in einer Welt, in der die Arbeit verschwindet - das aber müssen Liberale erst noch lernen; vielleicht ja von den Werten der alten Linken.

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