Wikileaks über Afghanistan:Das System Karsai

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Bislang galt die Korruption in Afghanistan als Problem - die Wikileaks-Dokumente legen nahe, dass sie zur Basis des Staats gehört. Die Enthüllungsplattform selbst ist auf wikileaks.org indes nicht mehr erreichbar.

Die aktuellen Wikileaks-Veröffentlichungen rücken Afghanistan in den Fokus. Sie skizzieren das Land am Hindukusch als ein von Bestechung getragenes System, das die Besatzer - allen voran die britischen - mit Verachtung straft. Doch auch die US-Kräfte haben großzügige Verwaltungspauschalen einbehalten - von den Spenden der europäischen Partner.

Als Großbritanniens damaliger Premierminister Gordon Brown (rechts) in Kabul 2008 Präsident Karsai traf, wusste er noch nicht, was die afghanische Führung über die britische Militärpräsenz denkt. Die Wikileaks-Dokumente scheinen das nun aufzuklären. (Foto: dpa)

Dass die Korruption in Afghanistan auch in Regierungskreisen grassiert, gilt als bekannt - doch das schiere Ausmaß von Bestechung, Erpressung und Veruntreuung ist auch für US- Diplomaten in Kabul schockierend. So kabelte die US-Botschaft im vergangenen Januar, lediglich ein einziger Minister in Kabul stehe nicht unter Verdacht von Korruption und Vetternwirtschaft.

Schwere Bedenken wurden erneut gegen Staatspräsident Hamid Karsai laut. Ein Regierungsvertreter in Kabul habe einem staunenden Diplomaten ein "Vier-Stufen-Modell" der Korruption erklärt. Demnach werde bei amerikanischen Hilfsprojekten gleich mehrfach abkassiert: Wenn etwa ein Bauvorhaben ausgeschrieben, wenn der Auftrag vergeben wird, während des Baus und ein weiteres Mal, wenn das Projekt eingeweiht wird, heißt es in dem Bericht der Zeitung.

In den Dokumenten werde erneut deutlich, dass das Übel höchste Stellen erfasst: Karsai selbst habe etwa fünf Grenzpolizisten begnadigt, die mit mehr als 100 Kilogramm Heroin erwischt worden seien. Berichten der Nachrichtenagentur dapd zufolge soll der afghanische Präsident verurteilte Häftlinge und mutmaßliche Drogenhändler begnadigt und deren Wiedereingliederung in den Militärdienst angeordnet haben.

Koffer voller Geld

Ein vom Guardian zitierter Kabelbericht soll detailliert schildern, wie der Vizepräsident mit 52 Millionen Dollar in bar am Flughafen in Dubai aufgehalten wurde - er hatte das Geld in Koffern bei sich.

Laut einer vertraulichen Diplomatendepesche aus dem Jahr 2009 klagte ein amtierender Gouverneur in der Provinz Khost, dass er seinen Job nicht behalten könne - es fehlten ihm 200.000 bis 300.000 Dollar Bestechungsgeld. Ein weiteres Beispiel nach Angaben der New York Times: Das Verkehrsministerium in Kabul nehme 200 Millionen Dollar im Jahr an Lastwagensteuern ein - doch lediglich 30 Millionen Dollar würden an die Regierung abgeführt.

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Doch auch unter den Alliierten gab es Ärger um Finanzen: Wie unter anderem Spiegel Online berichtet, habe die Bundesregierung 2009 50 Millionen Euro an einen Stiftungsfonds für die afghanische Armee (Afghan National Army, ANA) überwiesen, den "ANA Trust Fund". Das Geld sei "zur Verbesserung der Einsatzfähigkeit und für den Aufbau der ANA", zitiert die Online-Plattform aus einer Broschüre der Bundeswehr.

Schneller als Erfolge war die Meldung, die bei der Bundesregierung für Ärger sorgte: Die Amerikaner wollen selbst anscheinend einen erheblichen Teil der Spende einbehalten, wie aus einer Depesche des damaligen deutschen Nato-Botschafters in Brüssel, Ulrich Brandenburg, an seinen US-Gegenpart Ivo Daalder hervorgeht. Das sorgte in Deutschland ebenso für Ärger wie entsprechende Fälle in anderen Geldgeber-Staaten.

Doch Afghanistan hat nicht nur ein Problem mit der Korruption - sondern auch mit den britischen Truppen: Die auf Wikileaks veröffentlichten Dokumente enthüllten, wie die afghanische Führung die britischen Truppen sieht: voller "erschütternder Verachtung", wie der Guardian resümiert.

So habe der Gouverneur der Provinz Helmand sich wiederholt kritisch über die Kräfte aus dem Vereinigten Königreich geäußert. "Ich habe nichts gegen sie", sagte Gulab Mangal dem Bericht der Online-Ausgabe zufolge, "Aber sie müssen ihre Camps verlassen und auf die Menschen zugehen."

Besonders bitteren Beigeschmack dürfte für die Briten haben, dass der afghanische Politiker seine Meinung über die britischen Truppen dem US-amerikanischen Vizepräsidenten Joe Biden direkt mitteilte.

Hacker legen Website lahm

Wer die brisanten Dokumente derzeit auf der Enthüllungsplattform selbst nachlesen möchte, muss jedoch einen Umweg in Kauf nehmen: Seit einigen Stunden ist Wikileaks.org nicht mehr erreichbar. Grund sind die wiederholten Denial-of-Service-Attacken, denen sich die Seite seit Sonntag ausgesetzt sieht: Dabei werden von vielen unterschiedlichen Computern sekündlich mehrere Anfragen an die Server einer Internetpräsenz geschickt, wodurch diese wegen Überlastung abstürzen. Zu den Angriffen hatte sich ein US-Hacker bekannt.

Die Angriffe haben den kostenlosen amerikanischen Domainverwalter EveryDNS dazu veranlasst, die Domain Wikileaks.org vorläufig zu löschen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Seite vom Netz genommen ist: EveryDNS übersetzt die IP-Adresse der Server, eine Zahlenfolge, in die Buchstaben der Internetadresse. Wikileaks mag deshalb aus dem "Internet-Telefonbuch" verschwunden sein, ist aber unter http://46.59.1.2/ oder http://213.251.145.96/ weiterhin direkt erreichbar. Inzwischen hat Wikileaks per Twitter bekanntgegeben, "in die Schweiz zu ziehen". Die Seite ist nun unter www.wikileaks.ch erreichbar.

© sueddeutsche.de/dpa/reuters/dapd/leja/joku - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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