Urteil zu Lissabon:Wie viel Europa erlaubt das Grundgesetz?

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Fünf Fragen und fünf Antworten zum schwierigen Verhältnis zwischen den Nationen und der EU.

Heribert Prantl

In seinem Urteil hat das Bundesverfassungsgericht sich mit den wichtigsten Fragen zum Verhältnis zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedsländern beschäftigt. Hier die Antworten der Karlsruher Richter:

Die Verfassungsrichter haben sich in ihrem Urteil zum Verhältnis zwischen der EU und den Mitgliedstaaten geäußert. (Foto: Foto: dpa)

1. Ist ein Europa ein Staat?

Nein, denn einerseits sagt Karlsruhe zwar: "Der Umfang politischer Gestaltungsmacht der Union ist - nicht zuletzt durch den Vertrag von Lissabon - stetig und erheblich gewachsen, sodass inzwischen in einigen Politikbereichen die EU einem Bundesstaat entsprechend ausgestaltet ist".

Dann jedoch zieht das Gericht die Grenzen: "Für den Beitritt zu einem europäischen Bundesstaat wäre in Deutschland eine Verfassungsneuschöpfung notwendig, mit der ein erklärter Verzicht auf die vom Grundgesetz gesicherte souveräne Staatlichkeit einherginge. Ein solcher Akt liegt nicht vor. Die EU stellt weiterhin einen völkerrechtlich begründeten Herrschaftsverband dar, der dauerhaft vom Vertragswillen souverän bleibender Staaten getragen wird. Die primäre Integrationsverantwortung liegt in der Hand der für die Völker handelnden nationalen Verfassungsorgane." Und es gilt: "Die Bundesrepublik Deutschland bleibt bei Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ein souveräner Staat. Insbesondere bleibt die deutsche Staatsgewalt in ihrer Substanz geschützt".

2. Wie groß ist das Demokratiedefizit der Europäischen Union? Welche Rolle spielt das Europa-Parlament?

Das Demokratiedefizit ist strukturell: "Durch den Ausbau der Kompetenzen des Europäischen Parlaments kann die Lücke zwischen dem Umfang der Entscheidungsmacht der Unionsorgane und der demokratischen Wirkmacht der Bürger in den Mitgliedsstaaten verringert, aber nicht geschlossen werden. Das Europäische Parlament ist weder in seiner Zusammensetzung noch im europäischen Kompetenzgefüge dafür hinreichend gerüstet, repräsentative und zurechenbare Mehrheitsentscheidungen als einheitliche politische Leitentscheidungen zu treffen. Es ist gemessen an staatlichen Demokratieanforderungen nicht gleichheitsgerecht gewählt. Es kann deshalb auch nicht eine parlamentarische Regierung tragen und sich im Regierungs-Oppositions-Schema parteipolitisch so organisieren, dass eine Richtungsentscheidung europäischer Wähler politisch bestimmend zur Wirkung gelangen könnte.

Angesichts dieses strukturellen Demokratiedefizits dürfen weitere Integrationsschritte weder die politische Gestaltungsfähigkeit der Staaten noch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung aushöhlen."

Das bedeutet, dass das nationale Parlament nicht pauschal, sondern konkret in jedem Einzelfall über Kompetenzübertragungen an die Europäische Union entscheiden muss.

3. Wie verträgt sich die Europafreundlichkeit des Grundgesetzes mit den demokratischen Prinzipien?

Einerseits: "Das Grundgesetz will eine internationale Friedensordnung und eine europäische Integration: Es gilt deshalb nicht nur der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit, sondern auch der Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit." Aber: Die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU steht unter der Bedingung, dass die deutsche "verfassungsrechtliche Identität" gewahrt bleibt, "und die Bundesrepublik ihre Fähigkeit zu selbstverantwortlicher politischer und sozialer Gestaltung der Lebensverhältnisse nicht verliert."

4. Wie viel Europa erlaubt das Grundgesetz?

"Das Grundgesetz ermächtigt mit Artikel 23 zur Beteiligung und Entwicklung einer als Staatenverbund konzipierten Europäischen Union ... in dem die Mitgliedsstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben." Mehr geht auf Basis des Grundgesetzes nicht. Wenn mehr gewollt wird - zum Beispiel ein europäischer Bundesstaat - , müsste eine neue Verfassung das Grundgesetz ablösen. Über diese müsste vom deutschen Volk abgestimmt werden.

"Das bedeutet, dass die europäische Integration nicht zur Aushöhlung des demokratischen Herrschaftssystems in Deutschland führen darf. Zwar müssen nicht eine bestimmte Summe oder bestimmte Arten von Hoheitsrechten in der Hand des Staates bleiben. Die europäische Vereinigung auf der Grundlage einer Vertragsunion souveräner Staaten darf aber nicht so verwirklicht werden, dass in den Mitgliedsstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt...

Dies betrifft insbesondere die Strafrechtspflege, die polizeiliche und militärische Verfügung über das Gewaltmonopol, fiskalische Grundentscheidungen, die sozialpolitische Gestaltung von Lebensverhältnissen sowie kulturell bedeutsame Entscheidungen wie Erziehung, Bildung, Medienordnung und Umgang mit Religionsgemeinschaften."

5. Hat die EU unmittelbaren Zugriff auf die Bundeswehr?

Nein, das Gericht argumentiert wie folgt: "Auch bei Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon besteht der konstitutive Parlamentsvorbehalt für den Auslandseinsatz der Streitkräfte fort. Der Vertrag überträgt der EU keine Zuständigkeit, auf die Streitkräfte der Mitgliedsstaaten ohne Zustimmung des jeweils betroffenen Mitgliedsstaats oder seine Parlaments zurückzugreifen."

© SZ vom 01.07.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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