Türkei:Warum Erdoğan so mächtig geworden ist

Lesezeit: 4 min

Der Staat bin ich - diese Auffassung vermittelte der türkische Staatspräsident schon vor dem missglückten Putschversuch vom Juli 2016. (Foto: AFP)

Aufschlussreich dokumentiert die Journalistin Çiğdem Akyol, wie Recep Tayyip Erdoğan schon vor dem Putschversuch so viel Macht ansammeln konnte. Der Blick in die Geschichte macht seinen Aufstieg nachvollziehbar.

Rezension von Luisa Seeling

Recep Tayyip Erdoğan hat viel ausgeteilt in den dreizehn Jahren seiner Herrschaft, Polemik gehört zu seinem Standardrepertoire. Aber das, was der Mann 2013 während der Gezi-Proteste aufführt, ist selbst für seine Verhältnisse krass. Der damalige türkische Ministerpräsident beschimpft die Demonstranten als "erbärmliche Nagetiere", die "das Schiff, in dem sich 77 Millionen türkische Bürger befinden", zum Sinken bringen wollten. Das hat nichts mehr mit den kalkulierten Provokationen zu tun, für die Erdoğan berüchtigt ist. Diesmal schlägt er blind drauflos.

Für Çiğdem Akyol gehört der Protestsommer 2013 zu den Schlüsselmomenten, in denen sich Erdoğans wichtigste Triebfedern offenbaren: die Gier nach Macht - und Angst. Die Journalistin hat eine Biografie über den Mann geschrieben, über dessen rigiden autoritären Führungsstil man sich hierzulande neuerdings mächtig aufregt, das Buch trägt den ultimativ klingenden Titel "Erdoğan. Die Biografie". Tatsächlich füllt Akyol eine Lücke, es gibt im deutschsprachigen Raum einige Bücher, die sich mit Erdoğans Politik beschäftigen, aber bisher keines, das seinen Lebensweg detailliert und nuanciert nachzeichnet.

Er geht ins Gefängnis - aber danach setzt er sich durch

Der hartnäckige Protest der Gezi-Jugend erweckt 2013 den Eindruck, Erdoğans Macht stehe auf der Kippe. Die Demonstranten treffen den Premier an einem empfindlichen Punkt. Er, der sich als Mann aus dem Volk inszeniert, als einen, der die Massen vertritt, hat einen veritablen Volksaufstand am Hals.

Was dann folgt, ist ebenso erstaunlich wie bezeichnend: Erdoğan übersteht die Proteste, er übersteht auch den Korruptionsskandal, der Ende 2013 AKP-Politiker, regierungsnahe Unternehmer und die Familie des Premiers erfasst. Mehr noch: 2014 können die Türken ihren Präsidenten erstmals direkt wählen, mehr als 50 Prozent stimmen für Erdoğan. Anstatt zu straucheln, ist der Mann obenauf. Wie kann das sein?

Warum es Erdoğan noch immer gelungen ist, sich gegen seine Gegner durchzusetzen, ist eine Frage, die Çiğdem Akyol, Jahrgang 1978, Türkei-Korrespondentin mit Sitz in Istanbul, schon in ihrem Buch "Generation Erdoğan" beschäftigt hat.

Diesmal pirscht sie sich noch näher heran - so gut es geht, AKP-Politiker reden ungern mit kritischen Journalisten, Akyols Interview-Anfragen gehen ins Leere. Dafür ist sie ihm nachgereist, hat mit Befürwortern und Gegnern gesprochen, Archivakten gewälzt. Herausgekommen ist eine angenehm differenzierte Biografie, die Erdoğans immer repressiveres Herrschaftssystem ebenso beleuchtet wie seine anfänglichen Erfolge als Reformer.

Aus Erdoğans Jugend im rauen Stadtteil Kasımpaşa erzählt Akyol die bekannten Anekdoten, bei denen, wie sie einräumt, Mythos und Wahrheit schwer zu trennen sind: Erdoğan prügelt sich, verkauft Sesamkringel, spielt Fußball, obwohl sein Vater kurze Hosen "unislamisch" findet, und erwirbt sich ansonsten den Ruf eines kompromisslosen Moralverfechters, der seine Mitspieler ermahnt, keinen Alkohol zu trinken. Bis heute pflegt er sein Image als frommer Macho.

Diplomatie mit der Türkei
:Die Türkei ist als Partner unverzichtbar

Böhmermann, Armenien, dann der Putsch - seit Monaten eskaliert das deutsch-türkische Verhältnis. Das ist gefährlich, denn jede Schlammschlacht bringt den radikalen Kräften Zulauf.

Kommentar von Luisa Seeling

Die Republik ist in jenen Jahren immer im Verteidigungsmodus, eine Abfolge von Chaos, Putsch, Repression. Das prägt auch den jungen Erdoğan. Etwa der Tod Adnan Menderes', des ersten "islamischen" Regierungschefs der Türkei, der in den Fünfzigerjahren vor allem die fromme Landbevölkerung vertritt und einige laizistische Reformen von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk rückgängig macht. 1960 putschen die Generäle, Menderes wird zum Tod durch den Strang verurteilt.

Als Sechsjähriger sieht Erdoğan in einer Zeitschrift ein Foto, es zeigt Menderes mit Schlinge um den Hals. Damals habe er nicht viel verstanden, erzählt er später. "Aber ich sah, dass mein Vater und meine Mutter sehr bestürzt waren." Erdoğan wird, schreibt Akyol, sich immer wieder auf Menderes beziehen.

Als er 2001 mit Weggefährten die AKP gründet, nennt er ihn ein Vorbild und zitiert seinen Ausspruch: "Es reicht, das Volk hat das Wort." Wie Menderes wird sich Erdoğan mit dem kemalistischen Establishment anlegen, er wird sogar ins Gefängnis gehen - aber er wird sich durchsetzen.

In der Episode klingt auch die alte sozio-kulturelle Spaltung der Gesellschaft an: Auf der einen Seite die "schwarzen" Türken (eine Bezeichnung, die auf die Soziologin Nilüfer Göle zurückgeht) - religiös, konservativ, arm, bildungsfern. Und die "weißen" Türken - die säkular-kemalistische Elite, die für die marginalisierten Milieus nur Verachtung übrig hat.

Von Anfang an mobilisiert Recep Tayyip Erdoğan bei seinen Anhängern die Wut der von Herrschenden jahrzehntelang gedemütigten Schichten. "Er hat es den arroganten kemalistischen Eliten gezeigt und gibt den schwarzen Türken ihre Würde zurück", schreibt Akyol. Die lieben ihn dafür - und bescheren ihm Wahlsiege.

Doppelte Staatsbürgerschaft
:Das bedeutet Deutsch-Türken der Doppelpass

Die doppelte Staatsbürgerschaft untergrabe die Loyalität zu Deutschland, behaupten nicht nur Unionspolitiker seit den Pro-Erdoğan-Demos. Was sagen Türkeistämmige dazu?

Von Deniz Aykanat

Eine weitere Frage zieht sich als roter Faden durch das Buch: Ist Erdoğan wirklich der stramme Islamist, für den ihn viele halten - also jemand, der den Staat nach seiner Auffassung vom Islam organisieren will?

Akyols Antwort: Er entstammt dem islamistischen Milieu, ist aber kein Islamist im engeren Sinne. Sein Programm sei er selbst; die Losung "Der Staat bin ich" eines Ludwig XIV. liege ihm näher als der Slogan "Der Islam ist die Lösung".

Klar sei aber, "dass sich Erdoğan eine islamisch-konservative Gesellschaft wünscht, in der der sunnitische Islam dominiert". Akyol beschreibt, wie in Erdoğan die Erkenntnis reift, dass man als Islamist alter Schule in der Türkei nicht weit kommt; die Kemalisten wachen über den Laizismus wie ein Schießhund.

Wegen eines vermeintlich islamistischen Gedichts muss Erdoğan, damals Bürgermeister von Istanbul, ins Gefängnis. Später bricht er mit seinem politischen Ziehvater Necmettin Erbakan, dem Grandseigneur des politischen Islams in der Türkei, und gründet mit Weggefährten die AKP, die 2002 an die Regierung gewählt wird.

Ein Großteil des Buches widmet sich Erdoğans Regierungsjahren, es ist die Geschichte einer autoritären Wandlung. Die AKP startet als moderat muslimische, EU-orientierte und wirtschaftsliberale Kraft, die dem Land zwischen Europa und Asien demokratische Reformen und Wohlstand beschert.

Ein Kind dieses Staates

Mit Erdoğans zweiter und dritter Amtszeit wird die Regierung repressiver, und auch er selbst verändert sich: Sein Machthunger wächst, seine Furcht vor Entmachtung auch.

Akyols Bestandsaufnahme nach dreizehn Jahren Erdoğan ist wenig ermutigend: Kritische Medien werden geknebelt, die Justiz eingehegt.

Der Präsident führt wieder Krieg gegen die Kurden im Südosten des Landes - und zerstört die Chance, eine Lösung des Kurdenkonflikts zu seinem politischen Erbe zu machen. Wichtiger ist ihm der Umbau des Staats, er will in der Türkei ein Präsidialsystem einführen, das seine Machtfülle verfassungsmäßig verankert.

All das beschreibt die Autorin Akyol kenntnisreich und kritisch, aber die Stärke ihrer Biografie liegt eben auch darin, dass sie Erdoğan nicht einfach als Autoritären vom anderen Stern porträtiert, der den türkischen Staat gekapert hat. Sondern als Kind eben dieses Staates, in dem Zentralismus und Repression eine Geschichte haben.

© SZ vom 20.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Populismus
:Magie der harten Führer

Die Demokratie ist weltweit auf dem Rückzug. Starke Führer wie Putin oder Erdoğan erringen Erfolge. Was die vom Cäsarenwahn umflorten National-Autoritären so attraktiv macht.

Analyse von Stefan Ulrich

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: