SPD-Spitze:Mut zu bitteren Wahrheiten

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Gabriels erster öffentlicher Auftritt seit der Wahl: Im SPD-Vorstand wird endlich wieder offen geredet - selbst Peer Steinbrück muss sich Beleidigungen anhören.

Susanne Höll

Bei seinem ersten öffentlichen Auftritt seit der Bundestagswahl hat Sigmar Gabriel die Lage seiner Partei kurz, knapp und kühl analysiert. "Die SPD ist in einer denkbar schwierigen Situation", sagte der Mann, der Mitte November zum neuen Parteivorsitzenden gewählt werden will.

Wie schwierig die Lage tatsächlich ist, hatte Gabriel gerade in einer Sitzung des SPD-Vorstandes erlebt. Am Montagabend wurde dort, so berichten Teilnehmer, erstmals seit Jahren und in nahezu brutaler Offenheit über die parteiinternen Probleme, sowie die persönlichen und politischen Verwerfungen geredet, die wohl mitverantwortlich sind für das katastrophale SPD-Ergebnis vom 27.September.

Ausgelöst wurde diese Debatte vom scheidenden Vize-Parteichef und Finanzminister Peer Steinbrück. Der habe, so erzählen Teilnehmer, eine Bilanz der SPD-Politik gezogen. Ihm Nahestehende sprechen von einer schonungslosen Rede, seine Kritiker nennen sie überzogen. Steinbrück habe sich über die letztendlich gescheiterten Linkspartei-Experimente von Ex-Landeschefin Andrea Ypsilanti in Hessen beschwert, den bei der Landtagswahl unterlegenen schleswig-holsteinischen Spitzenkandidaten Ralf Stegner wegen mangelnder Selbstkritik gerügt und sich über den Berliner Landesverband geärgert, der nach der Bundestagswahl Noch-Parteichef Franz Müntefering, den neuen Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier und Steinbrück selbst für mehr oder minder untragbar erklärt hatte. Die Wähler hätten kein Vertrauen mehr in die SPD und deren wirtschaftspolitischen Sachverstand, wurde Steinbrück zitiert.

Das wiederum rief den zur Parteilinken gezählten, intern aber als Solisten bezeichneten Energieexperten Hermann Scheer auf den Plan, der Steinbrück so wenig leiden mag wie der Minister ihn. Scheer habe Steinbrück Arroganz, Rechthaberei und mangelnde Selbstkritik vorgeworfen. Gebrüllt worden sei zwar nicht, aber man habe Tacheles geredet.

Manche Vorstandsmitglieder waren erleichtert, dass endlich einmal ohne Umschweife geredet wurde, andere wiederum waren abgestoßen, entsetzt über die Gräben, die sich vor ihnen auftaten. Tatsächlich stehen sich Flügel, Gruppen und Grüppchen der Partei noch immer feindselig gegenüber, was auch die dürftigen Resultate erklärt, die einige der Kandidaten für die neue Führung in der geheimen Abstimmung im Vorstand erhielten.

Entscheidungen in Hinterzimmern

Die künftige Generalsekretärin Andrea Nahles, die Wortführerin des linken Flügels, bekam gerade einmal 66,6 Prozent. Sie muss davon ausgehen, dass nicht nur Parteirechte, sondern auch einige Linke, etwa aus Hessen, ihr die Stimme verweigerten. Denn die Hessen, unter ihnen Landeschef Thorsten Schäfer-Gümbel und der mit dem dortigen Landesverband engstens verwobene Scheer, hatten in den vergangenen Tagen klar gemacht, dass sie sich am Zustandekommen der neuen Führungsmannschaft stören. Die sei in Hinterzimmern ausgekungelt worden.

Scheer sprach gar von einer Art "Putsch". Jenseits der Gremien erinnern aber auch Parteilinke daran, dass es in der jüngsten Zeit auch in Hessen Personalentscheidungen in Hinterzimmern gegeben habe, und sagen, dass die Absprachen zwischen den einstigen Konkurrenten Gabriel und Nahles der Partei keine Aussichten verbaut, sondern eröffnet habe. Auch Müntefering sieht das inzwischen so. Alternativen zu den Verabredungen im kleinen Kreis habe es nicht gegeben. "Das war schon okay, dass Ihr miteinander gesprochen habt," sagte er am Montag nach der Vorstandssitzung.

Das künftige Führungsduo hat jedenfalls einen Einblick in den aufgewühlten Zustand der Partei bekommen. Dass sie und die künftigen vier Stellvertreter auf dem Parteitag Mitte November Traumergebnisse erzielen, glauben bislang weder Gabriel noch Nahles. Der Parteitag bereitet ihnen schon jetzt Sorge. Von "Zerreißproben" ist da die Rede. Eine heftige Debatte, gar eine Abstimmung über das neue Verhältnis zur Linkspartei will die neue Crew nach Möglichkeit vermeiden. Zwar ist das Tabu einer Kooperation im Bund gefallen. Doch keiner aus der neuen Spitze möchte den Eindruck erwecken, die geschwächte SPD laufe der Linkspartei hinterher. "Wir brauchen keine überflüssigen Diskussionen", heißt es im Kreis der Neuen.

Schmerzhafte Bilanzen

Denn es gibt drängendere Probleme. Niemand in der SPD ist sich inzwischen noch sicher, ob der Parteitag der Spitze nicht eine Abkehr von der in der großen Koalition beschlossenen Erhöhung des Rentenalters auf 67 aufzwingen wird. Eine Kehrtwende zurück zur Rente mit 65 würde aber neue innerparteiliche Konflikte nach sich ziehen, auch und gerade mit Fraktionschef Steinmeier, der auch am Montag in den Gremien mahnte, nicht zu viel über Revisionen der Regierungspolitik zu reden.

Eine gute Woche nach der Wahlniederlage werden also in der SPD-Führung, der alten wie der neuen, schmerzhafte Bilanzen gezogen, das Ausmaß des Debakels wird langsam klarer. Gabriel und Nahles machen sich daran, die Basis auf die Zukunft vorzubereiten. Bis zum Parteitag wollen sie Landes- und Bezirksverbände besuchen, um Vertrauen werben, zuhören. Sie kündigen sich nicht an, bitten stattdessen um Einladungen. Was und wie geredet wird, öffentlich oder hinter verschlossenen Türen, sollen die Verbände bestimmen.

© SZ vom 07.10.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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