Sondertreffen der EU-Innenminister:Warum so erbittert über die Flüchtlingsquote gestritten wird

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Wohin sollen die Flüchtlinge? Über die Verteilung von 160 000 Menschen verhandeln heute die EU-Innenminister. (Foto: REUTERS)

160 000 Flüchtlinge will die EU-Kommission nach einem festen Schlüssel verteilen, heute beraten Europas Innenminister. Die deutschen Grenzkontrollen könnten Bewegung bringen.

Von Paul Munzinger und Markus C. Schulte von Drach

Einen Tag, nachdem Deutschland beschlossen hat, auf unbestimmte Zeit seine Grenzen wieder zu kontrollieren, treffen sich die Innenminister der EU-Länder in Brüssel. Ihr Hauptthema: die Flüchtlingskrise. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat in der vergangenen Woche einen Plan vorgestellt, den die einen (Deutschland, Schweden und Frankreich etwa) sofort unterschreiben würden, gegen den die anderen (vor allem Ungarn und Tschechien) erbitterten Widerstand leisten. Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Was sieht der Juncker-Plan vor?

Es waren deutliche Worte, mit denen EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vergangene Woche die Lage der Europäischen Union beschrieb. Der EU fehle es an Europa und an Union, sie sei "in keinem guten Zustand". Juncker kritisierte, dass jeder mit dem Finger auf den anderen zeige, er erinnerte daran, dass Europa auch historisch ein Kontinent der Flüchtlinge sei, und er forderte: "Es ist an der Zeit, entschlossen und wagemutig zu handeln."

Im Zentrum seines Vorhabens steht die Quote. 160 000 Flüchtlinge sollen nach einem festen Verteilungsschlüssel auf die EU-Staaten verteilt werden. Ein Plan für die Umverteilung von 40 000 Menschen wurde bereits im Mai erarbeitet, aber bisher nur in Teilen umgesetzt. 120 000 Flüchtlinge, die sich derzeit in Griechenland, Italien und Ungarn befinden, sind neu hinzugekommen. Im Gegensatz zum Mai soll die Umverteilung nicht mehr auf Freiwilligkeit der Mitgliedstaaten beruhen. Ziel der EU-Kommission ist eine verbindliche Quote.

160 000 mögen angesichts von Hunderttausenden Flüchtlingen in Europa "ein Tropfen auf den heißen Stein" sein, wie Vizekanzler Sigmar Gabriel dem Tagesspiegel sagte - alleine in Deutschland kämen derzeit so viele Menschen in eineinhalb Monaten an, bis zum Ende des Jahres rechne er mit einer Million Flüchtlinge in Deutschland. Doch den Befürwortern einer Quote ist vor allem wichtig, dass dadurch ein System geschaffen würde, das bindend und auf Dauer angelegt ist. Eine Soldaritätsverpflichtung, die die Leidtragenden des Dublin-Verfahrens an den EU-Außengrenzen ebenso entlasten würde wie die bei Flüchtlingen beliebten Staaten wie Deutschland und Schweden.

Was eine feste Quote für die Flüchtlinge bedeuten würde, ist auch klar: Ein "Wahlrecht" hätten sie nicht mehr, sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière. "Wenn verteilt wird, dann wird verteilt. Dann muss man auch dort bleiben, wohin man verteilt worden ist."

Wie wird die von Berlin angeordnete Wiedereinführung von Grenzkontrollen die Verhandlungen beeinflussen?

Am Sonntag entschied die Bundesregierung, an der deutschen Grenze wieder Kontrollen einzuführen, besonders an den Übergängen nach Österreich. De Maizière versucht gar nicht erst, einen Zusammenhang mit dem heutigen Gipfel zu leugnen. Die Entscheidung vom Sonntag sei keine Abkehr von Europa, sagte er am Sonntagabend im ARD-Brennpunkt, sondern ein "Signal an Europa". Man müsse bei den Verhandlungen "endlich vorankommen", es gebe dringenden Handlungsbedarf.

Sigmar Gabriel forderte, durch eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge müsse "Druck von Deutschland" genommen werden. Druck auf die EU-Partner aufbauen, um den Druck auf die eigenen Grenzen zu verringern - auch so lässt sich die Entscheidung von Sonntag interpretieren.

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Wie lange die Grenzkontrollen aufrechterhalten werden sollen, dazu machte de Maizière keine konkreten Angaben. "Vorübergehend" lautet die aktuelle Sprachregelung. CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer demonstrierte im ZDF-Morgenmagazin, dass er deutlich konkretere Vorstellungen hat. Geht es nach ihm, dann wird an den Grenzen weiter kontrolliert, "so lange nicht ganz konkrete Beschlüsse in Europa gefasst werden".

Seit wann ist Deutschland für eine Quote?

Lange Zeit forderten vor allem die Länder Südeuropas, die Flüchtlinge, die in die EU wollten, müssten auf die Mitgliedsländer verteilt werden. Das aber steht im Widerspruch zum Dublin-Verfahren, nach dem Flüchtlinge sich dort um Asyl bewerben müssen, wo sie den Boden der EU erstmals betreten haben. Gerade Deutschland war konsequent dafür, an diesem Verfahren festzuhalten, da das Land davon profitierte: Nur relativ wenigen Menschen gelang es, hier um Asyl zu bitten.

Auf der Konferenz der EU-Innenminister am 9. Oktober 2014 in Luxemburg sagte Bundesinnenminister de Maizière dann: "Wir müssen uns verständigen auf Aufnahmequoten etwa nach Einwohnern."

Anlass der Kehrtwende war die wachsende Zahl der Flüchtlinge, die die EU und seit einigen Jahren zunehmend auch Deutschland erreichen - oder auf dem Weg dorthin sterben. Mit der Änderung der deutschen Position hatte die Diskussion um eine Quote Fahrt aufgenommen.

Polen: Das Land hatte zugesichert, 2000 Menschen aufzunehmen, als es darum ging, 40 000 Menschen aus Syrien und Eritrea in der EU zu verteilen. Nun soll das Land mehr als 9000 aufnehmen. Doch Warschau will sich das nicht vorschreiben lassen. Ministerpräsidentin Ewa Kopacz sagte unlängst, Polen würde langfristig 150 christliche Familien aus Syrien aufnehmen. Außerdem kämen nach Polen schon Ukrainer und Tschetschenen. Nichtregierungsorganisationen haben die Regierung dafür kritisiert, dass sie die Religion als Kriterium nutzt, um zu entscheiden, wer kommen darf.

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Slowakei: Die Slowakei soll etwa 1500 Flüchtlinge aufnehmen. Regierungschef Robert Fico sagte allerdings, sein Land werde niemals Quoten zustimmen. Der slowakische Außenminister Miroslav Lajčák begründete das jüngst im Spiegel damit, diese wären "eine Einladung, dass noch mehr Flüchtlinge sich auf den Weg nach Europa machen". Die Regierung in Bratislava fordert, Flüchtlingen außerhalb der EU zu helfen, die Grenzen dagegen stärker zu schützen.

Tschechien: Die Europäische Kommission hat vorgeschlagen, fast 3000 Flüchtlinge nach Tschechien zu schicken. Regierung und Opposition in Prag lehnen die Quoten jedoch einhellig ab. Die Länder müssten die Migration selbst kontrollieren und dabei die eigene wirtschaftliche und soziale Situation berücksichtigen, sagte Ministerpräsident Bohuslav Sobotka kürzlich. Präsident Miloš Zeman unterstützt inzwischen eine Petition seines Vorgängers Václav Klaus gegen Einwanderung. Darin warnt Klaus vor einer "künstlichen Mischung von Nationen, Kulturen und verschiedenen Religionen", die "Risiken und Bedrohungen" berge.

Rumänien: Rumänien soll den Quoten gemäß etwa 4600 Flüchtlinge aufnehmen. Jüngst hatte das Land sich bereiterklärt, etwa 1800 Asylsuchende aufzunehmen. Mehr sollen es nicht sein - und schon gar nicht wollen sich die Rumänen zu einer Aufnahme zwingen lassen. Das Land will, statt mehr Flüchtlinge aufzunehmen, lieber die Grenze besser sichern.

Estland, Lettland und Litauen: Die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sollen den Quoten zufolge je einige Hundert Flüchtlinge aufnehmen. Sie bestehen jedoch auf einer freiwilligen Verteilung. Gerade Esten und Letten haben in der Vergangenheit starke Einwanderung durch Russen erlebt und sind deshalb zurückhaltend. Es gibt jedoch Signale aus den Ländern, dass sie bereit sind, mehr Flüchtlinge aufzunehmen als bislang zugesagt.

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Ungarn: Zu den 120 000 Flüchtlingen, die in der EU verteilt werden sollen, gehören 54 000 Asylsuchende, die sich derzeit in Ungarn aufhalten. Das Land, in dem die Flüchtlingszahlen dramatisch angewachsen sind, würde also entlastet. Trotzdem ist die Regierung in Budapest strikt gegen die Quote. Premier Viktor Orbán bezeichnete sie sogar als "verrückt". Die Ablehnung rührt vor allem daher, dass die meisten Flüchtlinge gar nicht in Ungarn bleiben, sondern in andere EU-Länder weiterreisen wollen. Eine Quote würde deshalb langfristig vor allem Griechenland und Italien entlasten, sowie die Skandinavier und sogar Länder wie Deutschland. Ungarn aber, das nur ungern Flüchtlinge aufnimmt, müsste damit rechnen, in Zukunft mehr zugeteilt zu bekommen, als jetzt bleiben wollen.

Großbritannien, Dänemark und Irland: Die drei Länder Großbritannien, Dänemark und Irland haben einen Sonderstatus in der EU und konnten sich von vornherein von den Quoten ausschließen lassen. Die Regierung in London will aber Flüchtlinge außerhalb der EU unterstützen - und hat angekündigt, 20 000 Syrer aus den Lagern in den Nachbarländern Syriens aufzunehmen. Die Dänen gehen davon aus, bereits jetzt genug Flüchtlinge aufzunehmen.

Was kann man vom heutigen Innenminister-Treffen erwarten?

Formelle Beschlüsse auf jeden Fall nicht, davor muss das Europaparlament angehört werden. Ob es zu einer politischen Übereinkunft reicht, ist auch ungewiss. Das liegt vor allem am unverändert entschlossenen Widerstand gegen eine Quote in einigen Ländern Osteuropas.

Wie groß dieser Widerstand in den Staaten der sogenannten Visegrád-Gruppe ist - in Tschechien, Ungarn, der Slowakei und Polen -, davon konnte sich Außenminister Frank-Walter Steinmeier am Freitag selbst ein Bild machen. Beim Besuch in Prag appelierte er an die europäische Solidarität und bezeichnete die Flüchtlingskrise als die "größte Herausforderung" in der Geschichte der EU - und konnte doch niemanden auf die Seite Deutschlands und der EU-Kommission ziehen. "Wir sind überzeugt, dass wir als Länder die Kontrolle über die Zahl der Flüchtlinge haben sollten, die wir bereit sind aufzunehmen", sagte der tschechische Außenminister.

Skeptisch scheint daher auch Bundesinnenminister de Maizière zu sein. Wenn die Beratungen der EU-Innenminister am Montag keine Lösung brächten, erhoffe er sich zumindest einen "großen Schritt vorwärts", sagte er im ZDF. Die nächste Gelegenheit für den ganz großen Schritt - die Einführung einer verpflichtenden Quote - käme dann wohl schon recht bald: Sollte er am Montag keine Anzeichen von Solidarität erkennen, so kündigte EU-Ratspräsident Donald Tusk an, dann werde er noch im September einen Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs zur Flüchtlingskrise einberufen.

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