Schleswig-Holstein vor der Wahl:Von Kiel nach Kalifornien

Travemünde an der Ostsee: Breiter Strand und große Schiffe

Bei Sonnenaufgang ist es am Strand von Travemünde noch richtig einsam - wenn die Sonne hoch steht, gibt es in den Strandkörben kaum einen Platz.

(Foto: dpa-tmn)

Im Land der Strandkörbe wird politisch gestritten. Um Verkehrsanbindungen, um Arbeitsplätze - und um Windräder, die Menschen wütend machen.

Von Peter Burghardt und Thomas Hahn

Am Anfang war Kalifornien für ihn die Rettung. Wenn Freunde fragten, wo er am Wochenende gewesen sei, dann antwortete Daniel Karasek genüsslich: "in Kalifornien." Pause. Irre, der Karasek fliegt mal kurz von Kiel nach Kalifornien. Dieses Kalifornien gehört allerdings zur Gemeinde Schönberg in Schleswig-Holstein an der Ostsee und liegt neben dem Ortsteil Brasilien - ein paar Autominuten von Kiel entfernt. Noch heute steht dort sein Strandkorb. "Traumhaft", sagt der Intendant des Kieler Theaters. Aber inzwischen schwärmt er sogar von Kiel. Es war Liebe auf den zweiten Blick.

Daniel Karaseks Büro mit Plakaten von Nabucco und Faust 3 im denkmalgeschützten Opernhaus der Landeshauptstadt ist die erste von vier Stationen dieser Tour durch Schleswig-Holstein, eine gute Woche vor der Landtagswahl am 7. Mai. Der weit gereiste Regisseur kann nach 14 Jahren in dieser Provinz bestens verstehen, warum das Bundesland zwischen den Meeren vielen Menschen gefällt. Immerhin hat die Post die 2,8 Millionen Einwohner im deutschen Nordwesten zu den glücklichsten Bundesbürgern ernannt.

Gestritten wird schon noch, um Bildung, Straßen oder Windräder. Aber die großen politischen Dramen oder Tragödien der Vergangenheit fehlen. Der SPD-Ministerpräsident Torsten Albig mit seiner rot-grün-südschleswigschen Küstenkoalition befindet sich in einem spannenden Kampf um den nächsten Regierungsauftrag. Immerhin sieht es so aus, als würden sich Linke und die AfD schwer tun, ins Parlament zu kommen.

Karasek, geboren 1959 in München, wundert das nicht. Er mag den weiten Himmel über Schleswig-Holstein, das Wasser auf beiden Seiten der Region. Doch er lobt auch den Bürgergeist, die Offenheit und die Oasen der kleinen Metropole, die auf den ersten Blick eher hässlich daher- kommt. Der Krieg hatte Kiel zerstört, später ging es mit den Werften bergab. Daniel Karasek erkennt Aufbruchstimmung, mit vielen Studenten, mit Handball, Cafés, Kunst. Das von ihm geleitete Theater besuchten zuletzt 270 000 Zuschauer im Jahr, mehr als Kiel Einwohner zählt. Flüchtlinge finden zahlreiche Helfer und wenige Gegner. Klar gibt es auch die Problemzonen, Obdachlose, zu wenig Jobs, eine Bühne für den "Tatort". Dennoch sieht Daniel Karasek "ein irrsinniges Potenzial".

Ein Kiel-Patriot sei er geworden, dabei verbrachte der Sohn des verstorbenen Literaturkritikers Hellmuth Karasek Kindheitsjahre bei seiner Mutter in Venezuela und inszenierte auch in Caracas, Wien oder Hamburg. Von Mai an sitzt er in seiner Freizeit trotzdem gerne im Strandkorb in Kalifornien, Kreis Plön. "Neben lauter Schweizern und Russen", sagt er und lacht. "Die lieben die Ostsee."

Über den Schleusen des Nord-Ostsee-Kanals liegt ein Frieden, in dem man die Zeit vergessen könnte. Ganz Brunsbüttel wirkt an diesem kühlen Vormittag so verschlafen, als wolle es gar nicht richtig wach werden. Aber den Eindruck, dass die kleine Stadt ein Albtraum für Weltmänner sei, kann Frank Schnabel, Sprecher der Werkleiterrunde in Brunsbüttels ChemCoast Park, nicht bestätigen. Der ChemCoast Park ist das größte Gewerbegebiet Schleswig-Holsteins mit international operierenden Chemie- und Logistik-Unternehmen sowie 4000 Arbeitsplätzen. Straße, Schiene und Wasserweg verbinden es mit dem Rest der Welt. Der Nord-Ostsee-Kanal, der von der Elbe quer durchs Land Richtung Osten führt, ist die meistbefahrene künstliche Wasserstraße der Erde.

Die Industrie in Brunsbüttel wartet sehnsüchtig auf Projekte wie die Elbvertiefung

"Der Standort ist eine Perle, die es so nicht noch einmal gibt", sagt Schnabel. Erst vor Kurzem hat die niederländische Firma Gasunie Brunsbüttel als erste Wahl für ein neues deutsches Flüssiggas-Terminal benannt. Volumen: 400 Millionen Euro. Schnabel findet den Begriff "Boom" abgedroschen, trotzdem verwendet er ihn. Die deutsche Küste ist wieder in.

Schnabels gute Laune überrascht ein bisschen, denn der schleppende Ausbau der Infrastruktur ist ein zentrales Wahlkampfthema der Opposition. Gerade Brunsbüttels Industrie wartet sehnsüchtig auf Projekte wie die Elbvertiefung, die A 20-Verlängerung ab Bad Segeberg oder den Ausbau ihrer Schienenanbindung. SPD-Wirtschaftsminister Reinhard Meyer verteidigt sich mit Blick "durch die Brille des realistisch Machbaren". Er verweist auf die Tücken des Umweltrechts, Versäumnisse früherer Regierungen und manchen Ausbau, der eben doch schon stattfinde. Gibt ihm Schnabels gute Laune recht?

Jedenfalls folgt sie auf Jahrzehnte, in denen sich gerade Brunsbüttel vernachlässigt fühlte. Der Bund hatte immer Wichtigeres zu tun, als bessere Straßen und eine zweigleisige Schienenanbindung fürs Gewerbegebiet im hohen Norden zu unterstützen. Die Schleusen des Nord-Ostsee-Kanals aus der Kaiserzeit rosteten so lange vor sich hin, bis sie 2013 streikten und der Schiffsverkehr tagelang stockte. Mittlerweile läuft die Sanierung. Schnabel hat den Eindruck, dass Brunsbüttel jetzt dran ist. "Die Zeichen sind klar gesetzt, dass die Anbindung besser wird", sagt er. Und er beteuert, dass er nicht nur optimistisch ist, weil er es als Mann der Wirtschaft sein muss. In Barkelsby auf der Halbinsel Schwansen wartet ein Schleswig-Holsteiner der besonderen Art. Frank Dreves ist freundlich wie ein guter Nachbar und in aller Gelassenheit stur. Dreves, 43, zwei Kinder, vier Enkelsöhne, betreibt eine kleine Werbeagentur und zusammen mit seiner Frau noch eine Pension. Dazu bekleidet er mehrere Ehrenämter, unter anderem ist er Vorsitzender des Vereins Seeadlerschutz sowie Fraktionschef einer freien Wählergemeinschaft im Gemeinderat von Rieseby. Und Wahlkämpfer im Landtag ist er auch: Schleswig-Holsteins einziger parteiloser Direktkandidat. Dreves tritt im Wahlkreis Eckernförde an, dem größten des Landes, er fordert CDU-Chef Daniel Günther und FDP-Fraktionschef Wolfgang Kubicki heraus. Seine wichtigste Forderung richtet sich gegen die Energiewende: "Stoppt den Windwahn." Dreves' Zehn-Punkte-Programm ist etwas dünn, aber er steht für etwas: für den Groll des Hinterlandes, für den Kampf Heimat- gegen Umweltschutz, für lokale Befindlichkeit gegen Nachhaltigkeit. Der grüne Umweltminister Robert Habeck hat das Land auf mehr Natur- und Tierschutz getrimmt. Windkraftwerke sieht er als eine Investition in die Zukunft, auch wenn es noch an Speichermöglichkeiten für Windstrom fehlt und diese Wende das Land verändert. Vor allem an der Westküste ist ein Wald aus Windmühlen entstanden, er lässt den Horizont wie eine Science-Fiction-Landschaft erscheinen. Anrainer sehen sich umzingelt von den schlanken Riesen und fürchten den Infraschall.

An der Westküste ist ein Wald aus Windmühlen entstanden

In manchen Orten gibt es Bürgerwindparks, dort ist die Windkraft ein Gemeinschaftsprojekt. Andernorts wetteifern Agenturen oder Windkraftfirmen mit hohen Summen um Flächen für neue Windkraftwerke, machen einzelne Bauern reicher und Nachbarn wütend. "Gemeinden sind gespalten", sagt Dreves, "Dorffeste werden abgesagt, Nachbarn grüßen sich nicht mehr."

Er selbst ist gegen Windkraftwerke, weil deren Rotoren jedes Jahr "zigtausend" Vögel erschlagen. Er ist auch gegen Kohle- oder Atomkraft, aber Windenergie ist für ihn keine Alternative, sondern "aus Sicht des Artenschutzes absoluter Wahnsinn". Dort, wo er zu Hause ist, bei Schwedeneck und Schwansen, stehen erst wenige Windräder. Aber die Windvorrangflächen sind ausgezeichnet. Es gab Protestkundgebungen, und Dreves sagt: "Die Leute sehen, was in Dithmarschen und Nordfriesland ist: überall drehende Propeller. Das will man hier nicht." Er klingt, als wolle er die Zukunft auf später verschieben.

Auf Föhr ist kein einziges Wahlplakat zu sehen, man hat sich darauf geeinigt. Ganz untersagen könne man es nicht, sagt Gisela Riemann, die Bürgermeisterin von Oevenum bei Wyk auf Föhr, "aber grundsätzlich wollen wir das hier nicht." Föhr ist das zweitgrößte Eiland von Nordfriesland, gut 8000 Menschen auf knapp 83 Quadratkilometern mit grünem Marschland und hellen Stränden, umspült vom Unesco-Weltnaturerbe Wattenmeer der Nordsee. Dazu kommen zahlreiche Touristen. "Friesische Karibik", lautet ein Werbeslogan, die Luft ist salzig, klar und frisch, gegenüber liegen Amrum, Sylt und die Halligen.

Die überregionale Politik spielt in so einem Mikrokosmos schon ihre Rolle, bei den Fördergeldern zum Beispiel oder beim Küstenschutz. Gelegentlich schauen Minister vorbei. Ansonsten haben diese Inseln ihre eigenen Themen. Gisela Riemann ist Steuerberaterin und leitet für eine Wählergemeinschaft ehrenamtlich die hübsche Gemeinde Oevenum, 500 Bewohner mit Reetdachhäusern und Weiden.

Gerade werden zwölf Häuser mit Erbpacht für Einheimische gebaut, um wenigstens einige junge Familien zu halten. Viele verkaufen und ziehen weg, die Immobilienpreise auf den Ferieninseln sind wahnwitzig gestiegen. "Wir wollen keine Sylter Verhältnisse", sagt Gisela Riemann. Auch wollen sie aufpassen, "dass wir nicht abgekoppelt werden". Die Geburtsklinik wurde geschlossen, Schwangere müssen vor der Niederkunft aufs Festland, sehr ärgerlich.

Gisela Riemann wurde auf der Insel geboren, Geburten gehen jetzt nur noch zu Hause. Sonst hätten sie praktisch alles hier, auch Breitbandinternet. Und was es nicht gibt, besorgt man sich im Netz oder drüben am anderen Ufer. 40 bis 50 Minuten braucht das Schiff, sofern kein Sturm oder Niedrigwasser stört. Nach Kiel oder Hamburg sind es drei Stunden über Wasser und keineswegs optimale Straßen. Man gewöhnt sich dran. "Wir leben auf einer Insel, wo andere Urlaub machen", sagt Riemann. Egal, wer die Wahl gewinnt.

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