Religion und Terrorismus:Auf der Suche nach Rechtfertigung

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"Nicht in meinem Namen": Ein französischer Muslim vor der Moschee in Saint Etienne.

(Foto: Jean-Philippe Ksiazek/AFP)

Wer denkt, "der" Islam sei schuld am Radikalismus, der Frankreich heimgesucht hat, irrt. Er ist eine Religion, die jeden all das sehen lässt, was er in ihr sehen will - genau wie das Christentum auch.

Kommentar von Kurt Kister

Karl Poppers Buch "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" erschien 1945. Es war die zeitgebundene Antwort des großen Philosophen auf die mörderischen Staatsideologien, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etabliert hatten und deren Protagonisten diese Ära zur blutigsten der Geschichte gemacht hatten. Popper propagierte als einzig mögliche Alternative die Demokratie, die offene Gesellschaft.

In Paris zeigt sich nun, wie verwundbar diese offene Gesellschaft ist. Sie ist so verwundbar, weil sie offen ist, weil man in einem Rechtsstaat amtsbekannte Extremisten wie etwa die Brüder Kouachi nicht präventiv wegsperrt, weil die Terrorattacken von zwei oder drei islamistischen Verbrechern live und global übertragen werden. Attentäter und Geiselnehmer erzielen nirgendwo eine größere Wirkung als im Zentrum von Paris, London oder Berlin.

Kann sich Paris wiederholen? Ja, das ist leider so

Die offene Gesellschaft muss sich wehren können und wollen. Auch das hat sich in Paris gezeigt, wo Gendarmerie und Polizei die Geiselnahmen mit vermutlich unumgänglicher tödlicher Gewalt beendet haben. Wer nicht bereit ist, im Notfall auch solche Gewalt einzusetzen, der riskiert, dass die Feinde gerade die Offenheit der demokratischen Gesellschaft als Plattform ihrer Zerstörung nutzen.

Das Phänomen dieser neuen Stadtguerilla wird leider nicht so schnell verschwinden. Es sind Angehörige einer sehr kleinen Minderheit von hochfrustrierten, aggressiven jungen Männern, denen oft in Camps auf dem Boden mehr oder weniger zerfallener Staaten Märtyrer-Ideologie und Waffengebrauch beigebracht werden. Sie haben nichts zu verlieren außer ihrem Leben - und genau das wollen sie auch in einem Feuerwirbel vor Kameras tun. Wenn sie im Diesseits morden, glauben sie, im Jenseits dafür belohnt zu werden. Was für ein Schwachsinn.

Es ist nicht "der" Islam, dem dieser pathologische Radikalismus zuzuschreiben ist. Der Islam ist eine Religion, die jeden Gutwilligen, aber auch jeden Narren alles, was er in ihr sehen will, sehen lässt. Nicht anders ist es mit dem Christentum oder dem Hinduismus. Wer einen Gott sucht, um Dinge zu tun, die vernunftbegabte Menschen nicht tun würden, der wird sich einen Gott nach seinem Bilde schaffen.

Es gibt hundert Gründe dafür, Religion von Staat und Politik strikt zu trennen. Oft schüttelt man über die Politikreligion in der Türkei oder gar in Saudi-Arabien nur den Kopf. Allerdings ist auch hier nicht "der" Islam schuld. Viele dieser unterschiedlichen, sehr traditionellen Gesellschaften sind binnen kurzer Zeit nahezu vom Mittelalter in die Moderne gestürzt.

Zum Beispiel wurden aus Nomadenregionen fast über Nacht wacklige Nationalstaaten, in denen Öl und die je spezifische Interpretation der Religion Identität schaffen sollten. Nirgendwo bröckeln die Identitäten so gefährlich wie in der Krisenregion vom Maghreb bis zum Hindukusch. Der IS, al-Qaida oder Boko Haram sind die Symptome dieses Zerfalls.

Kann sich "Paris" wiederholen, etwa in Deutschland? Ja, das ist leider so. Es gibt ein sehr lockeres Netz potenzieller Einzeltäter in Europa, die man gerade unter ehemaligen IS-Kämpfern vermuten muss. Da diese Leute nicht nach Dutzenden, sondern nach Hunderten zählen, ist ihre Totalüberwachung in den offenen Gesellschaften nicht möglich. Wehrhaftigkeit ist wichtig. Aber im Kampf gegen diesen Feind darf Europa nicht aufgeben, was seine durchaus stabile Identität ausmacht.

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