Presseschau zum Betreuungsgeld-Urteil:"Die CSU wird an der Murks-Methode festhalten"

Wie die deutschsprachigen Medien von Kiel bis Zürich das Urteil zum Betreuungsgeld kommentieren.

Frankfurter Allgemeine Zeitung: "Bedauerlich, dass erst Verfassungsrichter das Betreuungsgeld zu Fall bringen mussten. Ausgangspunkt dieser Leistung für Kinder unter drei Jahren war der Wille der CSU, Mütter dafür zu belohnen, dass sie sich zu Hause um ihr Kind kümmern. Erst nach der Verunglimpfung als "Herdprämie" wurde das Betreuungsgeld umdeklariert, gezahlt wird es für den Verzicht auf staatliche Kinderbetreuung. In besser gestellten Familien ist das ein schöner Zuschuss zur privaten Kita. In einkommenschwachen und bildungsfernen Familien ist es ein starker Anreiz, Kinder zu Hause zu halten, denen die frühe Förderung in einer Krippe gut täte."

Der Tagesspiegel (Berlin): "Macht und Symbole - das war es wohl auch, worum es in der Diskussion ging. Ein Seehofer wollte zeigen, dass Deutschland noch tickt wie er, und eine Front der Aufgeklärten ihm beweisen, wie falsch er damit lag. Sollte die Diskussion nun von Neuem beginnen, wäre zu hoffen, sie könnte sich von diesen Eitelkeiten befreien. Das Betreuungsgeld nutzt wenig - doch immerhin jenen, die es bekommen. Und allen anderen schadet es nicht."

Kölner Stadtanzeiger: "Das Bundesverfassungsgericht hat das Betreuungsgeld zu Recht verworfen. Zu bedauern ist allein, dass die Richter nicht den gesetzgeberischen Wahnsinn aufgedeckt haben, der im Kostüm des Gesetzes umherstolzierte. Sie haben sich mit der Feststellung begnügt, dem Bund fehle die Gesetzgebungskompetenz. Das ist richtig, aber nicht angesprochen ist die Schizophrenie in der Familienpolitik, in die die CSU den Staat mit dem Betreuungsgeld gezwungen hat."

Mittelbayerische Zeitung (Regensburg): "Die Karlsruher Verfassungsrichter haben gestern nicht grundsätzlich gegen das Betreuungsgeld geurteilt, sondern lediglich dem Bund die Zuständigkeit dafür abgesprochen. Und das geht auch in Ordnung. Der Bund muss nicht alles regeln, was er glaubt, regeln zu müssen. Doch dies ist ein kleiner, aber gewichtiger Unterschied, der im überlauten Triumphgeheul über eine vermeintliche CSU-Niederlage leicht unterzugehen droht."

ZDF/heute (Mainz): "Die CSU wird an der Murks-Methode festhalten. Das deutet sich an, wenn sie jetzt die Umverteilung der Steuergelder für das verfassungswidrige Betreuungsgeld vom Bund auf die Länder will. Wenn sie trotz Energiewende keine Stromtrassen durch Bayern und keinen Atommüll aus Atomkraftwerken zurücknehmen will. Und wenn sie Flüchtlinge aus dem Kosovo und Albanien viel schlechter behandeln will als andere, ihnen weniger Geld und schlechtere Unterkünfte geben will. Bis das Bundesverfassungsgericht sagt, dass das Asylrecht nicht teilbar ist? Bis die Kirchen ihnen sagen, dass die Menschenrechte nicht verhandelbar sind?"

"Man muss den Bayern, nur weil sie nerven, nicht jeden Wunsch erfüllen"

Handelsblatt (Düsseldorf): "Zum zweiten Mal kurz hintereinander hat die CSU eine mächtige Schlappe vor Gericht erlitten: Erst die Ausländermaut von Verkehrsminister Alexander Dobrindt und heute das Betreuungsgeld. Gescheitert sind dabei nicht nur von Anfang an sowohl rechtlich wie politisch fragwürdige Gesetzes-Vorstöße der CSU, gescheitert ist eine Auf-Teufel-Komm-Raus-Politik, die sich eher ideologisch als pragmatisch orientiert. Offenkundig, so ist der Karlsruher Spruch auch zu lesen, reicht dies für eine nachhaltige Politik nicht."

Braunschweiger Zeitung: "Im Lichte des Karlsruher Urteils muss man sich fragen, wie es um die handwerkliche Qualität des Gesetzgebungsverfahrens steht. Die Anmaßung des Bundes war nicht nur für Juristen gut erkennbar. Es sieht so aus, als hätten in Ministerium und Parlament beim Betreuungsgeld Fachfragen keine große Rolle mehr gespielt - offenbar war die Koalitionsräson wichtiger. Vielen dürften gestern die Ohren geglüht haben. Den Koalitionsspitzen, aber auch den Abgeordneten, die dem Gesetz zugestimmt hatten."

Der Standard (Wien, Österreich): "Bei näherer Betrachtung gilt die Ohrfeige aus Karlsruhe der ganzen Koalition. Die CSU hat zwar so lange gequengelt, bis sie ihre 'Herdprämie' und ihre Maut bekam. Aber CDU und SPD haben die entsprechenden Gesetze mit auf den Weg gebracht. Sie könnten jetzt daraus lernen. Man muss den Bayern, nur weil sie nerven, nicht jeden Wunsch erfüllen. Man kann, wenn man selbst nicht von einer Idee überzeugt ist, auch mal Nein sagen."

Lausitzer Rundschau (Cottbus): "Wer Kinder hat, kann jede Hilfe brauchen. Deshalb sollte die Milliarde, die nun frei wird, aufgeteilt werden: ein Teil für den weiteren Ausbau von Krippen, vor allem für die Qualität der Betreuung. Ein anderer Teil als zusätzliche finanzielle Unterstützung in den ersten drei Jahren. Ganz unabhängig von der Art der Betreuung. Denn es geht um die Familien. Nicht um Horst Seehofer."

Zeit Online (Hamburg/Berlin): "Endlich: Kein Betreuungsgeld mehr vom Bund. Es ist das Ende des hoffentlich letzten Aufbegehrens gegen die Gleichberechtigung. Besonders peinlich ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zuallererst für die CSU, weil sie zum zweiten Mal etwas verbissen durchgeboxt hat - und dann gescheitert ist, erst bei der Maut, nun beim Betreuungsgeld."

"Wer mit dem Kopf durch die Wand will, holt sich Beulen"

Nürnberger Nachrichten: "Eine kluge CSU, die auch an ihre kaum noch vorhandene Akzeptanz bei jungen Frauen denkt, würde so argumentieren: Mit dem Betreuungsgeld ist die umstrittenste Leistung vom Tisch, lasst uns jetzt darüber reden, wie wir in Zukunft Politik machen, die allen Familien und Kindern dient. Doch die Reaktion von Horst Seehofer auf das Karlsruher Urteil und seine dreiste Forderung nach Bundesmitteln für ein bayerisches Betreuungsgeld deuten in die entgegengesetzte Richtung: Die CSU wird aus Schaden nicht klug und verweigert sich weiter jeder Debatte über eine moderne Familienpolitik."

MDR/tagesschau (Berlin): "Alle Beteiligten sollten deshalb aus dem Debakel zwei Lehren ziehen. Erstens: Mit Stammtischparolen und einem antiquierten Familienbild allein lässt sich keine vernünftige, verfassungsgemäße und rechtskonforme Politik machen. Und zweitens: Wer mit dem Kopf durch die Wand will, holt sich Beulen. Die gelten zwar als harmlos, doch Spätschäden sind nicht ausgeschlossen. Das sollte auch die CSU bei ihrer Hau-Drauf-Politik bedenken."

Kieler Nachrichten: "Natürlich reicht es jetzt nicht, einfach nur formale Fehler auszubügeln. Dass Bayern die 150 Euro künftig aus eigener Tasche bezahlt und der Rest der Republik die Leistung fallenlässt, wäre die denkbar schlechteste Konsequenz. Ein Deutschland, in dem rot-grüne Landesregierungen das frei werdende Geld komplett in den Krippen-Ausbau stecken, während die CSU allein das Betreuungsgeld am Leben hält, wäre kein besseres."

Stuttgarter Nachrichten: "Der Ball liegt nun bei der SPD. Und bei Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig. Es ist an ihr und ihrer Partei, aus dem formalen Urteil des Bundesverfassungsgerichtes inhaltlich Kapital zu schlagen. Sie haben nun die Chance, der Großen Koalition etwas mehr sozialdemokratischen Hauch zu verleihen. Die 900 Millionen Euro, die für das Betreuungsgeld im Bundeshaushalt 2015 eingeplant sind, wären zum Beispiel sinnvoller im Ausbau der Kindertagesstätten investiert. Oder darin, sie kostenlos und rund um die Uhr 24 Stunden zur Verfügung zu stellen - nicht jeder hat Arbeitszeiten von 8 bis 17 Uhr. Nur mit solchen Maßnahmen hätten Eltern wirklich die freie Wahl, wie sie ihr Familienleben organisieren."

"Seehofer bleibt auch nach der Niederlage im Angriffsmodus"

Neue Zürcher Zeitung (Schweiz): "Die Grundsätzlich kann man sich fragen, wie sehr sich die Politik in die Gestaltung des Familienlebens einmischen soll - zumal für Deutschland belegt ist, dass die Massnahmen keinen Einfluss auf die tiefe Geburtenrate haben. Viele der Leistungen zielen jedoch darauf ab, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu erleichtern. Das Betreuungsgeld läuft diesem Anspruch nicht nur zuwider. Auch das Hauptargument der Befürworter, Eltern hätten dadurch eine Wahl beim Erziehungsmodell, ist nur die halbe Wahrheit. Die 150 Euro im Monat werden wohl nur selten entscheidend dafür sein, ob sich jemand eine Arbeit sucht. Echte Wahlfreiheit sieht anders aus."

Schwäbische Zeitung (Ravensburg): "CSU-Chef Horst Seehofer bleibt auch nach der Niederlage im Angriffsmodus und beteuert, das Betreuungsgeld in seinem Land weiter zu zahlen. Er fordert dafür aber das Geld vom Bund. Wohl wissend, dass er es nicht bekommen wird. Denn Familienministerin Manuela Schwesig will das tun, was vernünftig ist: sie will das Geld in eine verbesserte Kinderbetreuung investieren."

Die Welt (Berlin): "Nicht aus ideologischen Gründen, aber um den Staatshaushalt zu schonen, spricht viel für eine ersatzlose Streichung des Betreuungsgeldes. Doch dies sollte nur der Anfang sein, die Familienförderung hierzulande effektiver und gerechter zu gestalten. Lasst Vätern und Müttern mehr von ihrem selbst verdienten Geld, dann bedürfen sie gar keines weiteren Päppelns durch den Staat!"

Badische Neueste Nachrichten (Karlsruhe): Das Betreuungsgeld ist daher auch ein Beispiel für die ideologisch völlig überfrachtete Debatte rund um die Familienpolitik. Das Besserwissen ist dabei die Paradedisziplin der Politik, gerade wenn es um das Wohl der Familien geht. Doch was gut und was schlecht ist, ob Mütter ihre Kleinkinder besser zu Hause betreuen oder in die Kita geben, darauf gibt es keine Pauschalantworten. Das sind Fragen des individuellen Lebensstils, die jeder für sich beantworten muss und nicht die Politik.

Hannoversche Allgemeine Zeitung: "Das reiche Bayern kann seine Familienpolitik selbst bezahlen. Dennoch wäre es ein gutes Zeichen, würde der Bund zumindest einen Teil des frei werdenden Geldes aus dem Betreuungstopf an die Länder weiterreichen. Davon profitieren auch die SPD-regierten Bundesländer. Die könnten dann selbst entscheiden, was sie damit machen wollen. Ganz föderal."

"Die Verfassungsexperten mehrerer Bundesregierungen müssen ganz schön gepennt haben"

Spiegel Online (Hamburg): "Insofern wirft das Urteil ein Schlaglicht auf eine gefährliche Fehlentwicklung der Politik: Es geht selten gut, wenn Politiker nur aus Koalitionstreue und politischem Kalkül heraus ein Gesetz verantworten, das sie selbst insgeheim ablehnen. Kristina Schröder war keine große Freundin des Betreuungsgeldes, trotzdem lieferte sie. Das gequälte Ja der SPD zur Pkw-Maut hat nur dazu geführt, dass möglicherweise demnächst der Europäische Gerichtshof das rechtlich fragwürdige Instrument kassiert. Und das Ja von Justizminister Heiko Maas zur Vorratsdatenspeicherung dürfte auch ein Fall für Karlsruhe werden."

Der neue Tag (Weiden): "Kinderkrippe kann eine Lösung sein. Sie ist es nicht immer. Für viele alleinerziehende Mütter stellt sich gar nicht die Frage. Für Familien, die nur als Doppelverdiener über die Runden kommen, auch nicht. Für deren Kinder die bestmöglichen Rahmenbedingungen zu schaffen, ist politische Pflicht: liebevolle Betreuung, nicht nur Verwahrung."

Rheinische Post (Düsseldorf): "Die Verfassungsexperten mehrerer Bundesregierungen müssen ganz schön gepennt haben, wenn die Verfassungsrichter nun einstimmig das Betreuungsgeld des Bundes wieder abräumen, weil dieser dafür gar keine Kompetenz hat. Das macht zwar insbesondere der CSU Probleme, die nach dem Stopp für die Maut nun ihr zweites zentrales Projekt verliert. Viel prekärer ist aber die Verunsicherung unter Millionen Eltern, die aktuell die staatliche Leistung bekommen haben bzw. künftig bekommen hätten."

Thüringische Landeszeitung (Weimar): "Nur Bayern will sich darüber hinwegsetzen und die 150 Euro im Monat für Ein- und Zweijährige, die nicht in eine Kita gehen, weiter ausgeben. Nur zahlen soll wie eh und je der Bund. (...) So oder so, war das Signal der obersten Richter, die einmal mehr korrigieren mussten, was Politiker versemmelten, klar: Es ging weniger um das Spannungsfeld zwischen sozialer Wohltat und rückschrittlicher Herdprämie. Sondern darum, dass der Staat keine Entschädigung zahlen muss, wenn man öffentliche Infrastruktur nicht in Anspruch nehmen will."

Volksstimme (Magdeburg): "Seehofer will den "Markenkern bayerischer Familienpolitik" nun notfalls mit Landesgeldern retten. Daran wird ihn und die CSU niemand hindern. Für den Rest der Republik aber macht das Karlsruher Urteil den Weg frei, die Familienpolitik noch deutlicher anders zu gewichten. Jenseits der bayerischen Grenzen ist der Kernpunkt die Kindertagesstätte. Dabei bleibt noch eine ganze Menge zu tun - von der Bezahlung der Erzieherinnen bis zum ausreichenden Angebot an Plätzen in Krippen und Kindergärten."

Rheinpfalz (Ludwigshafen): "Das jahrelang währende Gezerre um das Betreuungsgeld und sein unrühmliches Ende machen wieder einmal deutlich, dass es in Deutschland immer noch keine Familienpolitik gibt, die diesen Namen auch verdient. (...) Familienpolitik ist häufig nur das Feld, auf dem man der eigenen Wählerklientel Wohltaten erweisen oder dem politischen Gegner mal kräftig eines überbraten kann. Oder - wie im Fall des Betreuungsgelds - einen kleinen, rebellischen Koalitionspartner ruhigstellen kann."

Berliner Morgenpost: "Das Urteil hat also vor allem eines bewirkt: Es hat dafür gesorgt, dass die Debatte um das Betreuungsgeld neu entflammt ist. Auch das ist ein gutes Signal. Anders nämlich als in den jahrelangen, teils zermürbenden Diskussionen, die schlussendlich im August 2013 zur Einführung der Unterstützung für zu Hause bleibende Eltern geführt hatten, haben wir jetzt fast zwei Jahre praktische Erfahrung mit der Regelung und somit eine neue Grundlage für die Diskussion."

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